Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
Vom Netzwerk:
Mundwasser. Ich wünschte mich weit weg – von ihm, von diesem Zimmer, von dem, was wir miteinander gemacht hatten. Es war, als landete ich nach einem
schrecklichen Alptraum allmählich wieder auf der Erde, hätte aber den Boden noch nicht ganz wieder berührt. Ich war mir gar nicht sicher, ob ich das überhaupt wollte, denn das,
was mich dort erwartete, würde nicht viel besser sein, auch wenn ich wusste, dass ich nicht unbegrenzt an diesem riesigen, gestaltlosen Nachtmahr würde festhalten können, einem
Brodem aus Selbsthass und Reue, wie er sich in dieser Größe noch nie durch mein Leben gewälzt hatte. Ich würde nie mehr derselbe sein. Wie hatte ich zulassen können, dass
er all diese Dinge mit mir machte? Wie begierig hatte ich mitgemacht und ihn angespornt und dann auf ihn gewartet und gebettelt, bitte hör nicht auf. Jetzt war sein Papp auf meiner Brust
verklebt als Beweis dafür, dass ich eine ungeheuerliche Grenze überschritten, dass ich mich nicht so sehr an den Menschen vergangen hatte, die mir am nächsten standen, nicht so sehr
an mir selbst oder Dingen, die mir heilig waren, oder an der Rasse, die uns zusammengeführt hatte, oder an Marzia, die jetzt wie eine ferne Sirene auf einem versinkenden Riff stand, weit weg
und bedeutungslos, gereinigt von plätschernden Sommerwellen, während ich mich mühte, zu ihr hinauszuschwimmen, aus einem Wirbel von Angst heraus um Hilfe rufend in der Hoffnung, sie
könne ihren Teil zu den Bildern beitragen, die mir helfen würden, mich bis zum Tagesanbruch wiederzufinden, sondern an den noch Ungeborenen oder mir noch Unbekannten, die ich nun nie mehr
würde lieben können, ohne mich an diesen Wust von Scham und Ekel zu erinnern, der sich zwischen meinem Leben und dem ihren auftürmte und meine Liebe zu ihnen verfolgen und besudeln
würde. Für immer würde dieses Geheimnis zwischen uns stehen, das auf alles Gute in mir seinen Schatten warf.
    Oder lag das, woran ich mich vergangen hatte, tiefer – und was war es wohl?
    War der Ekel, den ich empfand, schon immer da gewesen, wenn auch getarnt, und hatte es nur so einer Nacht bedurft, um ihn freizusetzen?
    Etwas, was an Ekel grenzte, etwas wie Zerknirschung überkam mich und gewann immer schärfere Konturen, je deutlicher sich vor dem Fenster das beginnende Tageslicht abzeichnete.
    Doch wie das Licht schien die Zerknirschung – wenn es denn Zerknirschung war – vorübergehend blasser zu werden, um dann mit jeder Schmerzwelle neu aufzuflackern, als
wollte sie immer, wenn ich dachte, es sei überstanden, wieder einen Punkt verbuchen. Ich hatte gewusst, dass es weh tun würde, aber dass der Schmerz sich zu jähen Gewissensbissen
verschlingen und verknoten würde – das hatte ich nicht gewusst, davon hatte mir niemand etwas gesagt.
    Draußen stand jetzt die Morgendämmerung.
    Warum sah er mich so an? Hatte er erraten, wie mir zumute war?
    »Du bist nicht glücklich«, sagte er.
    Ich zuckte die Schultern.
    Nicht er war mir zuwider, sondern das, was wir gemacht hatten. Ich wollte nicht – noch nicht –, dass er mir ins Herz sah. Ich wollte mich nur aus diesem Sumpf von
Selbsthass befreien, wusste aber nicht wie.
    »Du ekelst dich, stimmt’s?«
    Wieder antwortete ich nur mit einem Achselzucken.
    »Ich hab gewusst, dass wir es nicht hätten tun dürfen, ich hab’s gewusst«, wiederholte er. Zum ersten Mal erlebte ich ihn unsicher, von Selbstzweifeln geplagt.
»Wir hätten miteinander reden müssen.«
    »Vielleicht.«
    Von allem, was ich an diesem Morgen hätte sagen können, war dieses fade »Vielleicht« das Grausamste.
    »War es so schlimm?«
    Nein, das war es nicht. Schlimm war das, was ich in diesem Augenblick empfand. Ich wollte mich nicht erinnern, wollte nicht mehr daran denken. Weg damit, es ist nie passiert. Ich habe es
versucht und es hat für mich nicht funktioniert, jetzt will ich mein Geld zurück, will den Film zurückspulen bis zu der Szene, wo ich drauf und dran bin, barfuß auf den Balkon
hinauszutreten. Bis hierher und nicht weiter. Ich werde dasitzen und im eigenen Saft schmoren und nie wissen, wie es ist – besser, mit meinem Körper zu streiten als zu empfinden,
was ich jetzt empfinde. Elio, Elio, haben wir dich nicht gewarnt?
    Da lag ich nun in seinem Bett und blieb nur aus purer Höflichkeit da. »Schlaf, wenn du willst«, sagte er, eine Hand auf meiner Schulter, sehr lieb, während ich,
judasgleich, mir immer wieder sagte: Wenn er nur wüsste! Wenn er nur wüsste, dass

Weitere Kostenlose Bücher