Ruf mich bei Deinem Namen
ich mich meilenweit, ein ganzes Leben weit von ihm weg wünsche. Ich machte die Augen zu. »Du
schaust mich an«, sagte ich mit geschlossenen Augen. Es war ein schönes Gefühl, dass jemand mich ansah, während ich die Augen geschlossen hielt.
Damit ich mich besser fühlen und vergessen konnte, musste er möglichst weit weg sein – aber auch möglichst in meiner Nähe für den Fall, dass sich mein Zustand
verschlimmerte und niemand da war, von dem ich Zuwendung erwarten durfte.
Insgeheim aber war ich irgendwie auch glücklich darüber, alles hinter mir zu haben. Ich hatte mich von ihm befreit, ein für allemal. Den Preis dafür würde ich zahlen
müssen. Die Frage war nur: Würde er verstehen? Und verzeihen?
Oder versuchte ich mit diesem Trick auch nur wieder, einen neuen Anfall von Ekel und Scham abzuwehren?
Sehr früh am Morgen gingen wir schwimmen. Vielleicht zum letzten Mal. Ich würde in mein Zimmer gehen, einschlafen, aufwachen, frühstücken, mir meine
Partitur vornehmen und die wunderbaren Morgenstunden dazu nutzen, den Haydn zu transkribieren. Ab und zu würde es mir einen Stich geben, weil er mich beim Frühstück womöglich
wieder vor den Kopf stoßen würde, und gleich darauf würde ich mir in Erinnerung rufen, dass diese Phase jetzt hinter uns lag, dass er noch vor wenigen Stunden in mir gewesen und
dann auf meiner Brust gekommen war, er hatte es so haben wollen, und ich hatte ihn gewähren lassen, vielleicht weil ich noch nicht gekommen war und ich es aufregend fand zuzusehen, wie sich
sein Gesicht verzerrte und er vor meinen Augen zum Höhepunkt kam.
Jetzt watete er im Hemd fast bis zu den Knien ins Wasser. Wenn Mafalda fragte, würde er sagen, das Hemd sei aus Versehen nass geworden.
Wir schwammen bis zu dem großen Felsen. Wir redeten. Er sollte denken, dass ich gern bei ihm war. Ich hatte im Meer das schmierige Zeug auf meiner Brust abwaschen wollen, aber sein Samen
haftete fest an meinem Körper. Sehr bald, wenn ich mich eingeseift und geduscht hatte, würde das Wasser auch meine Selbstzweifel wegnehmen, Zweifel, die vor drei Jahren angefangen hatten,
als ein fremder junger Mann auf einem Fahrrad neben mir angehalten hatte, abgestiegen war, mir einen Arm um die Schulter gelegt und mit dieser Geste etwas geweckt oder beschleunigt hatte, was sonst
vielleicht viel, viel langsamer in mein Bewusstsein gedrungen wäre. All diese Zweifel würden sich verflüchtigen wie ein über mich in Umlauf gebrachtes bösartiges
Gerücht oder ein Irrglaube, wären befreit wie ein Flaschengeist, der seine Strafe abgebüßt hat und jetzt durch den milden, sauberen Geruch der Kamillenseife, die in all unseren
Badezimmern lag, geläutert wird.
Wir saßen auf dem Felsen und redeten. Warum hatten wir das vorher nie gemacht? Ich hätte mich nicht so verzweifelt nach ihm gesehnt, wenn wir vor Wochen Freunde hätten werden
können. Vielleicht hätten wir gar nicht miteinander zu schlafen brauchen. Ich hätte ihm gern gesagt, dass ich keine zweihundert Meter von unserem Felsen entfernt neulich Marzia
geliebt hatte, ließ es dann aber sein. Statt dessen sprachen wir über Haydns Es ist vollbracht , das ich gerade transkribiert hatte. Dabei hatte ich nicht
das Gefühl, ihm imponieren oder mich in den Vordergrund spielen oder eine wacklige Fußbrücke von mir zu ihm schlagen zu müssen. Über Hadyn konnte ich stundenlang sprechen.
Was wäre das für eine schöne Freundschaft geworden!
Als ich mir einredete, ich sei nun ein für allemal mit ihm fertig, ja, als sei ich sogar einen Tick enttäuscht, dass ich mich so schnell erholt hatte, nachdem ich wochenlang unter
seinem Bann gestanden hatte, kam ich überhaupt nicht auf den Gedanken, dass genau dieser Wunsch, so ungewöhnlich entspannt beieinander zu sitzen und über Haydn zu reden,
gewissermaßen meine Achillesferse war, dass die Begierde, so sie denn wieder auftauchen sollte, sich auf diesem Weg, den ich immer für den gefahrlosesten gehalten hatte, ebenso gut
einschleichen konnte wie über den Anblick seines halbnackten Körpers am Pool.
»Bist du okay?«, fragte er irgendwann in meine Gedanken hinein.
»Ja, danke.«
Verlegen lächelnd, als wollte er seine erste Frage korrigieren, fügte er an: »Überall?«
Schon merkte ich, wie ich mich einigelte, Fenster und Türen schloss und die Kerzen ausblies, weil die Sonne aufgegangen war und die Scham lange Schatten warf.
»Ich meine …«
»Ich weiß, was du meinst. Wund.«
»Aber hat es dir was
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