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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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Gewebe rieb, erinnerte mich daran, wie er vor meinen Augen und nach so großem Einsatz seine
Ladung schließlich auf meiner Brust verschossen hatte. Aber nicht dieses Bild erregte mich am meisten, sondern die Durchlässigkeit, die Austauschbarkeit unserer Körper. Was mir
gehörte, gehörte plötzlich ihm, so wie das, was ihm gehörte, jetzt ganz mein sein konnte. Wurde ich erneut geködert? Bei Tisch setzte er sich neben mich, und als niemand
hinsah, schob er seinen Fuß unter meinen. Meine Füße waren rau vom ständigen Barfußlaufen, seine Sohle war glatt. In der vergangenen Nacht hatte ich seinen Fuß
geküsst und an seinen Zehen gelutscht, jetzt hatten sie sich unter meinen verhornten Fuß geschmiegt, und ich musste meinen Beschützer schützen.
    Er sorgte dafür, dass ich ihn nicht vergaß. Ich musste an eine Schlossherrin und brave Ehefrau denken, die mit einem jungen Vasallen schläft, ihn am Morgen von der Palastwache
gefangen nehmen und unter falschen Beschuldigungen kurzerhand in einem Kerker hinrichten lässt – nicht nur, um alle Beweise für ihr ehebrecherisches Tun zu beseitigen und den
jungen Liebhaber daran zu hindern, ihr jetzt, da er glaubt, er habe ein Recht auf ihre Gunst, lästig zu fallen, sondern um nicht der Versuchung zu erliegen, am nächsten Abend wieder zu
ihm zu gehen. Wurde Oliver lästig, indem er mir nachging? Und was hätte ich machen sollen – hilfesuchend zu meiner Mutter laufen?
    Vormittags fuhr er allein in die Stadt. Postamt, Signora Milani, die übliche Runde. Ich sah ihn die Allee hinunterradeln, immer noch in meiner Badehose. Noch nie hatte jemand meine Sachen
getragen. Vielleicht sind die physischen und metaphorischen Bedeutungen unbeholfene Erklärungsversuche für das, was geschieht, wenn zwei Menschen das Bedürfnis haben, einander nicht
nur nah, sondern so formbar zu sein, dass der Eine zum Anderen wird. Durch dich der zu sein, der ich bin. Durch mich der zu sein, der er war. In seinem Mund zu sein, während er in dem meinen
war und nicht mehr zu wissen, ob es sein Schwanz war oder meiner, der in meinem Mund war. Er war meine geheime Leitung zu meinem eigenen Ich – wie ein Katalysator, der uns
ermöglicht, das zu werden, was wir sind, der Fremdkörper, der Schrittmacher, das Transplantat, der Stahlstift, der den Knochen eines Soldaten zusammenhält, das Herz des anderen, das
uns zu mehr werden lässt als das, was wir vor der Transplantation waren.
    Bei dieser Vorstellung hätte ich am liebsten alles stehen und liegen lassen, um bei ihm zu sein. Ich wartete zehn Minuten, dann holte ich mein Rad und raste vorbei an Marzias Haus den
steilen Hang hinunter. Auf der Piazzetta zeigte sich, dass ich nur Minuten nach ihm angekommen war. Er stellte gerade sein Rad ab, hatte schon die Herald Tribune gekauft und war auf dem Weg zum Postamt, seiner ersten Anlaufstelle. Ich stürzte auf ihn zu. »Ich musste dich sprechen«, stieß ich hervor. »Warum, ist was
passiert?« »Ich musste dich einfach sprechen.« »Hast du nicht genug von mir?« Eigentlich habe ich das gedacht, wollte ich sagen, eigentlich wäre mir das ganz
recht gewesen – und dann platzte ich heraus: »Ich wollte bei dir sein. Aber wenn du willst, fahre ich gleich wieder zurück.« Er blieb stehen, senkte die Hand mit dem
Packen nicht abgesandter Briefe und sah mich kopfschüttelnd an. »Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie glücklich ich bin, dass wir miteinander geschlafen haben?«
    Ich hob abwehrend die Schultern. Ich hatte keine Komplimente verdient, und von ihm schon gar nicht. »Ich weiß nicht …«
    »Das sähe dir ähnlich. Ich möchte nichts von all dem bereuen müssen – auch nicht das, was ich heute früh nicht ansprechen durfte. Ich will dich nicht
verkorksen, möchte nicht, dass einer von uns zahlen muss – so oder so.«
    Ich wusste genau, worauf er anspielte, tat aber, als hätte ich ihn missverstanden. »Ich sag’s niemandem. Du brauchst keine Angst zu haben, dass du Scherereien
kriegst.«
    »Das habe ich nicht gemeint. Aber irgendwie werde ich bestimmt dafür zahlen müssen.« Und zum ersten Mal bekam ich eine Ahnung von einem anderen Oliver. »Für dich
ist das alles nur Jux und Tollerei, und das ist auch in Ordnung so. Für mich bedeutet es etwas anderes, und dass ich damit noch nicht klargekommen bin, macht mir Angst.«
    »Tut es dir Leid, dass ich gekommen bin?«
    »Ich würde dich drücken und küssen, wenn ich könnte.«
    »Ich auch.«
    Ich reckte mich zu

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