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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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verbringen würde, fragte sie meinen Vater – natürlich mit Erlaubnis von il cauboi  – ob ich ihn begleiten dürfte. Er hatte nichts dagegen.
    Meine Mutter half mir beim Packen. Ich würde, falls der Verleger uns zum Dinner einlud, ja vielleicht ein Sakko brauchen. Es würde kein Dinner geben. Und weshalb sollte er mich dazu
einladen? Trotzdem, das Sakko musste mit, fand sie. Ich wollte einen Rucksack nehmen, so reisen wie alle in meinem Alter. Mach, was du willst. Aber dann half sie mir doch, den Rucksack aus- und
wieder einzupacken, nachdem klar war, dass nicht alles, was ich mitnehmen wollte, hineingehen würde. Du bist doch nur zwei, drei Tage weg. Weder Oliver noch ich hatten die Zeitspanne unserer
letzten gemeinsamen Tage genau festgelegt. Mutter hat nie erfahren, wie sehr mich dieses »zwei, drei Tage« an jenem Vormittag traf. Ob wir schon wüssten, wo wir wohnen würden,
fragte sie. Pensione Soundso. Nie gehört, sagte sie, aber ich kenne mich da nicht so aus. Bei meinem Vater kamen wir damit nicht durch. Er kümmerte sich höchstpersönlich um die
Reservierung. Schenke ich euch, sagte er.
    Oliver packte nicht nur seinen Kleidersack. An unserem Abreisetag holte er seinen Koffer und stellte ihn an genau die Stelle, an die ich ihn am Tag seiner Ankunft hatte plumpsen lassen. Damals
hatte ich den Film im Schnellvorlauf zu dem Tag gespult, an dem ich mein Zimmer zurückbekommen würde. Jetzt überlegte ich, was ich bereit wäre zu opfern, um den Film
zurücklaufen zu lassen bis zu dem Nachmittag Ende Juni, als ich mit Oliver den pflichtgemäßen Rundgang über unser Grundstück gemacht hatte und wir plötzlich auf der
öden, verdorrten Fläche mit den stillgelegten Gleisen gelandet waren, wo mich das erste »Später« getroffen hatte. Jeder in meinem Alter hätte an jenem ersten Tag
lieber eine Siesta gehalten, als an unserer Grundstücksgrenze herumzulaufen. Offenbar hatte ich damals schon gewusst, was ich tat.
    Die Symmetrie des Ganzen – oder war es die ausgeleerte, scheinbar geplünderte Ordnung seines Zimmers – schnürte mir die Kehle zusammen. Es erinnerte mich nicht so
sehr an ein Hotelzimmer, in dem man nach wunderbaren, viel zu schnell verflogenen Tagen den Hoteldiener erwartet, der einem helfen soll, das Gepäck nach unten zu bringen, als an ein
Krankenzimmer, nachdem die eigenen Habseligkeiten eingepackt sind und der nächste Patient noch in der Notaufnahme wartet wie man selbst vor einer Woche.
    Es war der Probelauf für unsere endgültige Trennung – wie der letzte Blick auf einen Menschen, der am Respirator hängt, ehe die künstliche Beatmung endgültig
abgestellt wird.
    Ich war froh, dass ich das Zimmer zurückbekommen würde. Hier würde es leichter fallen, mich an unsere Nächte zu erinnern.
    Oder nein, vielleicht sollte ich doch lieber mein derzeitiges Zimmer behalten. Dann konnte ich so tun, als wäre er noch nebenan oder ausgegangen, wie so oft in jenen Nächten, wenn ich
die Minuten, die Stunden, die Geräusche gezählt hatte.
    Als ich seinen Kleiderschrank öffnete, sah ich, dass er eine Badehose dagelassen hatte, seine Chinos und ein sauberes Hemd. Das Flatterhemd. Die rote Badehose. Mit der wollte er heute
Vormittag noch ein letztes Mal schwimmen gehen.
    Ich machte die Schranktür zu. »Was die Badehose betrifft …«
    »Ja?«
    »Ich erzähl’s dir im Zug.«
    Aber dann erzählte ich es ihm doch gleich. »Versprich mir, dass ich sie behalten darf.«
    »Das ist alles?«
    »Trag sie heute viel – und nimm sie nicht zum Schwimmen.«
    »Das ist krank – und verkorkst.«
    »Krank und verkorkst und sehr, sehr traurig.«
    »So hab ich dich noch nie erlebt.«
    »Das Flatterhemd will ich auch. Und die Espadrilles. Und die Sonnenbrille. Und dich.«
    Als wir im Zug saßen, erzählte ich ihm von dem Tag, an dem wir gedacht hatten, er sei ertrunken, und wie ich mir vorgenommen hatte, meinen Vater zu bitten, möglichst viele
Fischer zu einer Suche zusammenzutrommeln und wenn sie ihn gefunden hatten, einen Scheiterhaufen am Strand anzuzünden, während ich mit Mafaldas Küchenmesser sein Herz herausschnitt,
weil dieses Herz und sein Hemd nun alles sein würden, was mir im Leben blieb. Ein Herz und ein Hemd. Sein Herz, in ein nasses Hemd gewickelt – wie Anchises Fisch.

DRITTER TEIL
    Das San-Clemente-Syndrom

A n einem Mittwochabend gegen sieben kamen wir auf der Stazione Termini an. Es war schwül und stickig in Rom, als sei ein Gewitter über
die Stadt weggezogen,

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