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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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er ist nicht mehr … Charlotte verdrehte vielsagend die Augen … Er hat nachgelassen, in letzter Zeit.
    – Ich hab auch nachgelassen, in letzter Zeit, sagte Kurt.
    Er entschied sich gegen die Blumen.
    Als er das Zimmer betrat, saß Wilhelm in seinem Sessel wie immer, sah aus wie immer und benahm sich auch so. Schon seit Jahren pflegte er die Gratulationen sitzend entgegenzunehmen, an sich schon demütigend, fand Kurt, und als Wilhelm ihn, kaum dass er eingetreten war, auch noch in seiner herrischen Weise nach Alexander fragte, verspürte er abermals Lust, die Wahrheit zu sagen.
    – Alexander ist krank!
    Charlotte war ihm zuvorgekommen. Wilhelm nickte, er winkte Nadjeshda Iwanowna zu sich, nahm ihre Glückwünsche entgegen. Sie schenkte ihm ein Glas selbsteingelegter Gurken, und Wilhelm, der keine Gelegenheit ausließ, mit seinen Russischkenntnissen zu prahlen, versuchte es mit Garosch, Garosch ! Wahrscheinlich meinte er: Charascho (gut) , aber nicht einmal das brachte er zustande. In Wirklichkeit konnte Wilhelm kein Russisch, hatte nie Russisch gekonnt. Denn obwohl er gern von seinen «Moskauer Jahren» sprach, hatte es diese «Moskauer Jahre» nie gegeben. Zwar war er tatsächlich 1936 in Begleitung von ihm, Kurt, und Werner (die dann beide «aus Sicherheitsgründen» dort geblieben waren) nach Moskau gereist, um sich – wie Kurt vermutete – beim Nachrichtendienst der Roten Armee geheimdienstlich ausbilden zu lassen. Allerdings hatte sein Aufenthalt nicht Jahre, sondern allenfalls Wochen gedauert. Obendrein lag die streng geheime Ausbildungsstätte irgendwo weit außerhalb, sodass Wilhelm Moskau in Wirklichkeit kaum mehr als dreimal im Leben gesehen hatte: Garosch, Garosch!
    Damit es auch alle mitbekamen, zitierte Wilhelm jetzt Mählich heran, ließ sich das Gurkenglas öffnen und – aß eine Gurke … Und selbst das konnte er auf unnachahmlich großkotzige Weise: die Nachlässigkeit, mit der er die Gurke über dem Glas abtropfen ließ, wie er hineinbiss, wie er die angebissene Gurke, während er ungehemmt schmatzte, zwischen den Fingern hin und her rollte und sie betrachtete, als sei er die letzte Instanz zur Beurteilung der Qualität einer Gurke:
    – Garosch, sagte Wilhelm noch einmal und gewährte nun endlich auch Kurt die Gunst, ihm zu gratulieren. Aber als Kurt ihm, den Abscheu vor Wilhelms gurkennassen Fingern überwindend, die Hand entgegenstreckte, winkte Wilhelm bloß ab: Bring das Gemüse zum Friedhof.
    Gemüse zum Friedhof? Jetzt war Kurt doch überrascht: Hatte er tatsächlich, wie Charlotte es ausdrückte, «nachgelassen»?
    Dann wandte er sich der Geburtstagsrunde zu. Früher waren zu Wilhelms Geburtstag hin und wieder ganz interessante Leute erschienen: Frank Janko, einmal jüngster Divisionskommandeur der Internationalen Brigaden, oder Karl Irrwig, der, immerhin, gegen Ulbricht einen deutschen Weg zum Sozialismus hatte durchsetzen wollen. Oder auch Stine Spier, die Brecht-Schauspielerin, die Charlotte und Wilhelm noch aus dem mexikanischen Exil kannten. Aber Jankos Name wurde im Hause nicht mehr genannt, seit er wegen irgendwelcher angeblicher «Machenschaften» sechs Jahre im Gefängnis gesessen hatte; Karl Irrwig, der zwar aus dem Politbüro ausgeschlossen worden, aber nicht vollständig in Ungnade gefallen war, blieb irgendwann einfach aus; Stine Spier, die am Geburtstagstisch stets komische, oft auch politisch anrüchige Geschichten vom Theater zum Besten gegeben hatte, war von Charlotte vor zwei oder drei Jahren endgültig hinauskomplimentiert worden, und auf diese Weise waren nach und nach alle einigermaßen interessanten Leute verschwunden, bis am Ende das übrig blieb, was jetzt hier versammelt war:
    Mählich natürlich, Wilhelms größter Bewunderer (eigentlich ein netter Kerl, aber von einer geradezu tragischen geistigen Behäbigkeit); Mählichs immer irgendwie kranke Frau, eine ehemalige Polizistin (blond und früher einmal so hübsch, dass sie, wäre sie nicht hoffnungslos prüde gewesen, durchaus für seine, Kurts, Trophäensammlung in Frage gekommen wäre); daneben die Nachbarn von gegenüber, einander ähnlich wie ein Mops dem anderen, die Namen hatte Kurt, wie jedes Jahr, vergessen: Er war früher Hausmeister in Saschas Schule gewesen und erledigte heute kleine Botengänge für Charlotte und Wilhelm; von ihr war Kurt nichts bekannt, außer dass sie, so hieß es, einen künstlichen Darmausgang hatte (künstlicher Darmausgang: komische Idee); dann gab es noch den

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