Ruge Eugen
Abschnittsbevollmächtigten, den Genossen Krüger, den Kurt immer nur von weitem sah, wenn er mit dem Fahrrad vorbeifuhr; Bunke natürlich, Bluthochdruck, Oberst der Staatssicherheit, der immer – Krüß tisch, krüß tisch, wo is tenn Irina! – tat, als seien sie weiß Gott wie befreundet (dabei hatten sie ihn nur ein einziges Mal zum Tee eingeladen, um über die beiden Tannen in seinem Garten zu sprechen, die das Gurkenbeet von Nadjeshda Iwanowna verschatteten); Harry Zenk hatte sich ebenfalls hierherverirrt: ausnahmsweise ein intelligenter, ja sogar gerissener Mensch (jedoch dumm genug, sich zum Rektor der sogenannten Neuendorfer Akademie machen zu lassen); schließlich noch Gertrud Stiller, die immer errötete, wenn sie sich alljährlich hier begegneten: Vor langer Zeit hatte Charlotte ihm diese Frau einreden wollen, wobei das eigentlich Beschämende an der Angelegenheit war, dass Kurt diese Möglichkeit tatsächlich, wenn vielleicht auch nicht mit letztem Ernst, erwogen hatte – eins von Kurts geheimsten Geheimnissen, so geheim, dass er sich selbst kaum noch daran erinnerte; na und den Rest kannte er eigentlich nicht: irgendwelche Verkäuferinnen, Parteiveteranen, und, du lieber Gott, wie sah der denn aus!
– Flagamfall, sagte Till.
Tillbert Wendt, mit dem er im Kommunistischen Jugendverband Berlin-Britz gewesen war: ein Jahr jünger als er selbst. Kurt versuchte, kein allzu entsetztes Gesicht zu machen.
– Und sonst?
Blöde Frage.
– Fonft geht ef, sagte Till.
– Na, Hauptsache, wir sind noch am Leben, sagte Kurt und klopfte ihm auf die Schulter, obwohl er sicher war, dass er sich umbringen würde, sollte ihm so was passieren.
Fette Buttercremetorte hätte er früher nicht angerührt. Aber seitdem man ihm zwei Drittel seines Magens herausoperiert hatte, machte ihm auch fette Buttercremetorte nichts aus. Auch Kaffee bekam er gleich, erwischte eine von den uralten, schon völlig zerschrammten mexikanischen Hartplastiktassen, welche wie jedes Jahr das nicht ganz ausreichende «gute Geschirr» aus der Hinterlassenschaft des Nazis ergänzten. Tatsächlich hatten Charlotte und Wilhelm ja alles zusammen mit dem Haus übernommen (genauer gesagt: alles, was nach den sowjetischen Offizieren, die hier eine Zeitlang gehaust hatten, noch übrig geblieben war). Nur das Essbesteck mit dem winzigen Hakenkreuz, das hinter den Initialen eingraviert war, hatten sie aussortiert, was letztlich dazu führte, dass man seine Torte hier von Nazi-Tellern löffelte – aber mit Besteck aus volkseigener Produktion.
– Da sdrawstwujet, sagte Bunke und hob seinen Aluminiumbecher.
Auch dieser eine Errungenschaft der DDR, samt dem Zeug, das dadrin war, und wenn sich Kurt dreiunddreißig Jahre lang geweigert hatte, Kognak oder, noch schlimmer, Goldbrand aus diesen Aluminiumbechern zu trinken – heute war er so weit.
– Auf Korbatschow, sagte Bunke. Auf die Berestroika in der DDR!
Till wehrte ab, als man ihm einen Becher reichte. Der Abschnittsbevollmächtigte tat, als hätte er nichts gehört. Die Möpse hatten schon bei «Da Sdrawstwujet» genippt. Nur Mählich hob, sich vorsichtig umblickend, seinen Becher – ließ ihn jedoch wieder sinken, als Harry Zenk Einspruch erhob:
– Auf Gorbatschow – ja. Auf die Perestroika in der DDR – nein.
Und Mählichs Frau – Anita hieß sie, jetzt fiel es Kurt ein – erwies sich tatsächlich als dämlich genug, jenen Spruch beizusteuern, den der andere Kurt, der Politbüro-Kurt (Kurt Hager, den Kurt insgeheim Kurt Arschloch nannte), kürzlich in einem dann auch im ND abgedruckten Interview mit einer Westzeitschrift hatte verlauten lassen:
– Wenn unser Nachbar tapeziert, brauchen wir ja nicht auch gleich zu tapezieren.
Ein Neuendorfer Parteiveteran stimmte dem zu, und Bunke wandte sich plötzlich an ihn, Kurt:
– Kurt, sag du doch mal was!
Auf einmal schauten ihn alle an: Anita mit ihrer spitz gewordenen Nase; Mählich begann schon zu nicken, bevor Kurt auch nur Luft geholt hatte; die Möpse mit exakt in gleichem Winkel geneigten Köpfen … Nur Till, von alldem unberührt, versuchte beharrlich ein Stück Torte in sein halbseitig gelähmtes Gesicht zu befördern.
– Prost, sagte Kurt.
– Ja, Brost, sagte Bunke.
Kurt kippte das Zeug in sich hinein. Es brannte, rieselte langsam die Speiseröhre hinab. Brannte sich allmählich durch – bis zu der Stelle, wo sich seit einigen Stunden ein Ziehen eingestellt hatte: nicht der Magen. Etwas unterhalb … Was war das
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