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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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verwirklicht), konnte Kurt nicht leugnen, dass er das kleine Turmzimmerchen immer gemocht hatte. Hier hatte sein zweites – oder sein drittes? – Leben begonnen, und er erinnerte sich gern an die Stille über Neuendorf, wenn er morgens um halb sieben das Fenster aufgerissen und seine Schreibmaschine aufgestellt hatte, an die prickelnde Luft, an die gelben Blätter vorm Fenster, obwohl es ja, dachte Kurt, nicht immerzu Herbst gewesen sein konnte – aber anstatt sich jetzt mit der Frage zu befassen, warum die Platanen in seiner Erinnerung stets gelb waren, sollte er sich, dachte er, lieber allmählich Gedanken darüber machen, wie er die Fragen, die ihm gleich gestellt werden würden, beantworten wollte.
    Obwohl es eigentlich nichts zum Nachdenken gab. Was hatte es für einen Sinn, heute, an Wilhelms Geburtstag, einen Eklat zu provozieren: Wozu? Wem nützte das? Wilhelm war ein starrsinniger alter Idiot, und eigentlich, dachte Kurt, hätte er die Wahrheit verdient, als Strafe für seinen Starrsinn. Eigentlich, dachte er, während zwischen gescheckten Baumstämmen jetzt die graue Fassade zum Vorschein kam, die massive Tür, die vergitterten kleinen Flurfenster, die das Haus endgültig zu einer Festung machten – eigentlich müsste man es ihm sagen, dachte Kurt und versuchte, sich Wilhelms Gesicht vorzustellen: Heute, an deinem Geburtstag, müsste man sagen, hat dein Enkel entschieden, dass er die Schnauze voll hat von euch, herzlichen Glückwunsch!, dachte Kurt und unterdrückte das Bedürfnis, einen der dämlichen Türklopfer zu betätigen: Schon lange ärgerte ihn dieses Nicht klopfen! Dass man schon mit einem Verbot empfangen wurde! Zumal man ja, wenn das Schild nicht da klebte, überhaupt nicht auf die Idee käme zu klopfen, ja, wahrscheinlich käme man noch nicht einmal auf die Idee, dass es sich bei diesen dämlichen Löwenköpfen um Türklopfer handelte!
    Kurt holte tief Luft, so tief, als müsste er mit der eingeatmeten Luft für einige Stunden auskommen, und drückte die Klingel.
    Die Tür öffnete sich, ein Gesicht erschien: ein rundes, ein dummes Gesicht – es gab kaum jemanden, fand Kurt, dem man schon auf den ersten Blick so deutlich ansah, was er war, nämlich ein Funktionärr – eines von Irinas beliebtesten Schimpfwörtern. Kurt versuchte, sich rasch an Schlinger vorbeizuschieben, aber Schlinger, einmal im Besitz seiner Hand, wollte sie nicht wieder loslassen, schüttelte sie, nickte Kurt zu auf seine typische, unangenehm vertrauliche Art, und bedauerlicherweise ertappte Kurt sich dabei, wie er, und sei es bloß, um die Sache abzukürzen, zurücknickte.
    – Bitte auf die Genossin Powileit warten, rief Schlinger ihm hinterher.
    Kurt dachte nicht daran, auf die Genossin Powileit zu warten, allerdings kam die Genossin Powileit schon angetrippelt, ehe Nadjeshda Iwanowna sich auch nur des Mantels entledigt hatte – flink wie eine Spinne, die sich auf ihre Beute stürzt.
    – Nanu, wo ist denn Irina?
    – Irina ist krank, sagte Kurt.
    – Krank? Was hat sie denn, wollte Charlotte wissen.
    – Es geht ihr schlecht, sagte Kurt.
    – Und Alexander? Sag jetzt nicht, dass es Alexander auch schlechtgeht!
    – Mutti, es tut mir leid, begann Kurt. Aber Charlotte schnitt ihm das Wort ab.
    – Also Kinder, wie stellt ihr euch denn das vor? Was soll ich denn Wilhelm sagen? Er wird heute neunzig!
    – Jetzt hör mir mal zu, Mutti …
    – Ja, entschuldige, sagte Charlotte, entschuldige … Aber ich drehe hier auch langsam durch. Ich kann bald nicht mehr!
    Sie stöhnte, setzte ihren tragischen Blick auf.
    – Der Jühn hat auch abgesagt, stell dir mal vor! Schickt einen Stellvertreter, unglaublich! Wilhelm wird neunzig! Er kriegt den Vaterländischen Verdienstorden in Gold! Und der schickt einen Stellvertreter! … Wo hast du denn deine Blumen?
    – Ach, du Scheiße, sagte Kurt. Die hab ich zu Hause vergessen.
    – Na, ist auch egal, dann nimmst du dir ein paar andere, sagte Charlotte. Ist ja genug da von dem Zeug.
    Kurt schaute zur Garderobennische, wo schon unzählige Sträuße im Halbdunkel vor sich hin dämmerten, während die Stimme seiner Mutter wie aus der Ferne zu ihm drang …
    – … und bitte, Kurt, wenn du jetzt reingehst, kein Wort über irgendwelche Ereignisse. Du weißt schon: Ungarn, Prag … Und nichts über die Sowjetunion.
    – Und nichts über Polen, sagte Kurt.
    – Genau, sagte Charlotte.
    – Und nichts über das Weltall und nichts über den Mond, sagte Kurt.
    – Kurt, ich bitte dich,

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