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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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eigentlich für ein Organ, das ansprach, wenn der Sohn republikflüchtig wurde?
    Parteiorgan, dachte Kurt, war aber nicht in der Stimmung, das witzig zu finden, und vertiefte sich, um nicht weiter in die Gorbatschow-Diskussion hineingezogen zu werden, in seine Torte. Aussichtslos, dachte er, diesen Leuten seine Meinung über Gorbatschow begreiflich zu machen: dass Gorbatschow nicht weit genug ging … dass er konzeptionslos und inkonsequent war … dass sein Buch über die Perestroika nicht die Spur eines theoretischen Ansatzes enthielt …
    Er war noch bei der Torte, als eine Person den Raum betrat, die Kurt nicht gleich zuordnen konnte: eine für diesen Kreis viel zu junge, ja auch viel zu attraktive Frau, die er erst erkannte, als er den schlaksigen Zwölfjährigen sah, den sie in Richtung Wilhelm vor sich herschob … Hatte sich aufgedonnert, sieh einer an! Sogar hohe Schuhe. Was hatte das wohl zu bedeuten?
    Kurt schaute zu, wie die beiden vor Wilhelms Sessel Aufstellung nahmen, wie Melitta sich zu Wilhelm hinunterbeugte, wirklich knallkurzer Rock, Markus überreichte Wilhelm ein Bild, und Kurt erinnerte sich, dass Markus auch ihm zum Geburtstag einmal ein Bild geschenkt hatte. Irgendein Tier, verdammt, er sollte es tatsächlich mal aufhängen, dachte Kurt und sah zu, wie Markus die Runde machte, zierlich und blass und ein bisschen verlegen, genau wie Sascha in diesem Alter, dachte er, und auf einmal blieb ihm nichts anderes übrig, als Markus an sich zu drücken: Ihm einfach, wie alle andern, die Hand zu geben, kam ihm zu wenig vor. Und plötzlich hatte er sogar das Bedürfnis, Melitta an sich zu drücken, unterließ es natürlich, rückte aber, nachdem er sie begrüßt hatte, beflissen ein Stückchen zur Seite, damit ein Stuhl für sie dazwischen gestellt werden konnte.
    Sie trug gemusterte Strümpfe. Unglücklicherweise saß Kurt in seinem Sessel ein kleines Stück tiefer als sie, sodass er, während er überlegte, was er ihr Freundliches sagen könnte, durch den Anblick ihrer gemusterten Strümpfe stark abgelenkt war. Jedes Kompliment, das ihm durch den Kopf ging, klang plötzlich, als wolle er ein früheres Vorurteil revidieren, und er brauchte einige Zeit, bis er herausbrachte:
    – Gut siehst du aus.
    – Du auch, sagte Melitta und schaute ihn mit großen, grünen Augen an.
    – Na ja, wiegelte Kurt ab – obwohl er, offen gestanden, nicht vollkommen abgeneigt war, es zu glauben.
    – Und wo ist Irina, fragte Melitta.
    – Irina geht es nicht gut, sagte Kurt und erwartete, dass Melitta nun nach Sascha fragen würde.
    Sie fragte nicht, vielleicht aber nur, weil Charlotte in diesem Moment in den Raum kam und, energisch wie eine Kindergärtnerin in die Hände klatschend, ihre immer lauter werdenden Gäste zur Ruhe zu bringen versuchte: Der Stellvertreter war da. Ordensverleihung!
    Kurt legte die Kuchengabel wieder aus der Hand und lehnte sich zurück. Der Redner begann mit trockener Stimme und einer selbst für einen Funktionärr erstaunlichen Monotonie die Laudatio abzulesen, welche, von kaum merklichen Abweichungen abgesehen, natürlich die war, die immer gehalten wurde, wenn Wilhelm einen Orden bekam (was in letzter Zeit beinahe jährlich geschah, offenbar, weil er stets den Eindruck vermittelte, es könnte sein letzter Geburtstag sein – selbst darin hatte er eine gewisse Meisterschaft entwickelt): Wilhelms Kämpferbiographie, aus der alles, was irgendwie interessant hätte sein können, mit den Jahren verschwunden war, ein großartiges Dokument des Stumpfsinns. Immerhin hatte es den Vorteil, dass Kurt nun, da Melitta sich dem Redner zuwandte, ungehemmt ihre gemusterten Strümpfe betrachten konnte. Genauer gesagt, ihre Strumpfhose oder, noch genauer, die Stelle knapp unter dem Saum ihres Rocks, er wusste nicht, wie das hieß, wo das Muster ins Glatte überging; und dass Melitta den Rock noch einmal zurechtzupfte, machte die Sache nur interessanter, weil der Rock sofort wieder zu verrutschen begann, während sich ihre Schenkel mit einem kaum hörbaren Knistern gegeneinander verschoben.
    Kurt spürte, wie sich in seinem Unterleib etwas regte, und er überlegte, ob er sich schlecht fühlen müsse angesichts der Tatsache, dass es sich um seine ehemalige Schwiegertochter handelte … Nein, eine wirklich schöne Frau war sie nicht, dachte Kurt, während der Redner davon berichtete, wie Wilhelm den Weg zur Partei der Arbeiterklasse fand, aber wenn er sie so ansah, gefiel ihm gerade das, ehrlich gesagt.

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