Ruge Eugen
Gerade das Nicht-so-Schöne, dachte Kurt, hatte bei Frauen auch seinen Reiz. Schwer zu erklären. Vielleicht musste man ein bestimmtes Alter erreichen, um das zu begreifen.
Sein Blick wanderte über die aufregend grobe Textur ihres Rockes, tastete die nicht ganz blickdichte Bluse ab, streifte die muskulösen Unterarme, verhedderte sich, während der Redner an Wilhelms ewige Kapp-Putsch-Verwundung erinnerte, in der zierlichen schwarzen Trägerkonstruktion, die Melittas breiten Rücken durchkreuzte, prüfte die Wirkung des Lippenstifts in ihrem Gesicht, registrierte die sorgfältig gezupften Augenbrauen (und die leichte Rötung, die vom Zupfen zurückgeblieben war), und – es machte ihn traurig. Plötzlich rührte ihn der Anblick der jungen Frau, plötzlich sah er in ihr die Verschmähte; Sinnbild all dessen, was Sascha in seinem Leben verworfen, verlassen, zerstört hatte und was er jetzt – typisch! – einfach zurückließ. Aber zugleich – und Kurt wunderte sich, dass beides im selben Augenblick in einem einzigen Körper existierte –, zugleich erregte es ihn auch, und es war, so schien ihm, gerade das Verworfene, Verschmähte, was ihn erregte, gerade das verschmähte Wollen und Gewolltwerden dieser Nicht-so-Schönen, das eben dadurch, dass es verschmäht wurde, umso unverblümter hervortrat – gerade das erregte Kurt und ließ ihn, indem er das Wagnis wahrnahm, dem sich diese Frau mit ihrer Aufmachung aussetzte, sogar einen Ansatz für eine kleine Theorie der Erotik des Nicht-so-Schönen wittern , deren Ausarbeitung er aber vorerst vertagte.
Eine Zeitlang hielten sie sich die Waage: Traurigkeit und Anziehung, das Ziehen in seinem Bauch und die Regung tiefer unten, das Parteiorgan und die Opposition , dachte Kurt, aber als der Redner in einem langen, klappernden Satz (welcher nichts weiter mitteilte, als dass Wilhelm zweiter Gauleiter des Berliner Rotfrontkämpferbundes gewesen war) die zwanziger Jahre durchquerte und unter konsequenter Auslassung der großen Niederlage im Jahr 33 ankam, gewann die Opposition in Kurts Hose allmählich die Überhand, und während die Gesellschaft in Feierlichkeit erstarrte, während die Möpse ihre Köpfe andächtig schräg stellten, während Till schlief (oder für seine Totenmaske übte), während Harry Zenk mit geschlossenem Mund zu gähnen versuchte und Mählich ein Gesicht machte, als hörte er das alles zum ersten Mal, befand Kurt sich längst in Wilhelms Parteikeller: Antifaschistischer Widerstand , sagte der Redner, während Kurt in hastige Aktivitäten verwickelt war, der lange Versammlungstisch spielte eine gewisse Rolle, die Bilder waren verwackelt, einzig das Muster der Strumpfhose sah er ganz scharf, genauer gesagt, die Stelle, er wusste nicht, wie es hieß, Illegalität , sagte der Redner, und als Kurt kurze Zeit später wieder in der erstarrten Gesellschaft auftauchte, war die Opposition in seiner Hose dermaßen heldenhaft , sagte der Redner, erstarkt, dass es zwischen den Falten seiner Unterhose zu klemmen und zu kneifen begann.
Der Redner beendete seine Rede mit weiteren Lobpreisungen des unermüdlich für die Sache Eintretenden. Kurt versuchte vergeblich, die Hose unter dem Tisch zurechtzuzupfen. Erst als der Beifall anhob, setzte die Schrumpfung ein, in dem Augenblick, als die erstarrte Gesellschaft wieder zum Leben erwachte und mit unverhältnismäßigem Enthusiasmus die Rede des Stellvertreters zu beklatschen begann. Wahrscheinlich, dachte Kurt, notgedrungen mitklatschend, war keinem der Klatschenden klar, was er da eigentlich beklatschte. Nichts in der Rede entsprach im Grunde der Wahrheit, dachte Kurt, immer noch klatschend, weder war Wilhelm Parteimitglied «der ersten Stunde» (sondern hatte – ursprünglich USPD-Mitglied – erst mit der Vereinigung beider Parteien zur KPD gefunden), noch stimmte es, dass er beim Kapp-Putsch verwundet worden war (zwar war er tatsächlich verwundet worden, aber nicht 1920 beim Kapp-Putsch, sondern 1921 bei der sogenannten Märzaktion, einem katastrophalen Fehlschlag, der natürlich weniger gut in eine Kämpferbiographie passte). Schlimmer jedoch als diese kleinen Halbwahrheiten waren die großen Weglassungen, schlimmer war das notorische Schweigen über Wilhelms Taten in den zwanziger Jahren: Damals – und daran erinnerte sich Kurt noch sehr gut – war Wilhelm ein unbeirrter Verfechter der von der Sowjetunion verordneten «Einheitsfrontpolitik» gewesen, welche die Führer der Sozialdemokratie als
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