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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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von der sich auflösenden Sowjetunion, und obwohl Irina die Nachricht jetzt schon zum soundsovielten Mal hörte, blieb sie, den Grünkohl in der Hand, vor dem Fenster stehen … Einen Augenblick schaute sie in den aufgeweichten, noch halb mit Schneeresten bedeckten Garten, und es kam ihr auf einmal recht unwahrscheinlich vor: dass tatsächlich sie es gewesen war. Irgendwann einmal, in einer fernen Vorvorzeit … dass sie es gewesen war, die auf dem Bauch über die kalte, schlammige Erde gekrochen war, heulend, fluchend, mit aufgescheuerten Fingern … Und wie schwer ein Verwundeter war! Und wie der Weg bis zu den eigenen Linien immer länger und länger wurde … Und gerade als sie überlegte, ob es legitim sei, noch einen winzig kleinen, symbolischen Schluck auf den Untergang der Sowjetunion zu trinken, hupte es draußen.
    Sie ging rasch zum Flurfenster, schaute hinaus: Catrin zog gerade das Tor zu, und Sascha stieg aus einem großen silbergrauen Auto, neben dem ihr Lada wie ein Museumsstück aussah.
    Irina hatte Catrin zum letzten Mal im Sommer gesehen, und sie erinnerte sich jetzt, dass ihr schon damals eine Wandlung aufgefallen war: Aus der immer irgendwie sperrig aussehenden, billig zurechtgemachten Frau war auf einmal so etwas wie eine Erscheinung geworden. Ob es an den Westklamotten lag (sie trug ein klassisches dunkles Kostüm) oder an der (vermutlich künstlichen) Sonnenbräune – Catrin sah plötzlich aus wie die Frauen in den Katalogen, die der Briefträger neuerdings ungefragt in den Briefkasten warf; zu allem Überfluss trug sie sehr hohe Schuhe, sodass sie Irina um beinahe zwei Köpfe überragte.
    Ganz im Gegensatz zu ihrer äußeren Erscheinung benahm sie sich auffällig scheu. Demonstrativ hielt sie sich an Sascha, versteckte sich halb hinter ihm. Sie begrüßte Irina lächelnd, mit leiser Stimme, schaute sie fragend von unten an (tatsächlich brachte sie es trotz ihrer Körpergröße fertig, Irina von unten anzuschauen), kurz und gut, ihr Verhalten kam Irina vom ersten Augenblick an falsch und gespielt, ja fast beleidigend vor.
    Aber auch Sascha erschien ihr im ersten Augenblick ein wenig fremd. Vielleicht lag es bloß an der Frisur – er hatte sich die Koteletten kurz abrasiert, wie es jetzt Mode war. Seine ungewohnt weiten Jeans (früher hatte er auf knallenge Hosen Wert gelegt) und das schicke Jackett, für dessen grobgewebten Stoff Irina die rechte Bezeichnung fehlte, ließen ihn irgendwie reifer, gesetzter erscheinen. Aber als er sie umarmte, nahm sie seinen Körpergeruch wahr, und dann fehlte nur noch, dass sie das schimmernde Grau in seinen Haaren entdeckte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
    – Ach, Mama, sagte Sascha. Alles ist gut!
    Sascha war, so schien es, in prächtiger Stimmung. Irina zupfte den Grünkohl aus und hörte sich an, was er zu erzählen hatte: über die neue Wohnung – Ihr kommt doch bald mal! – und über das neue Auto und über die verdammte Ostautobahn , auf der sie fast eine Stunde im Stau gestanden hatten; dann über Paris, wo sie neulich gewesen waren, das ihnen aber weniger gefallen hatte als London, obwohl das Essen in London grauenhaft gewesen war, fast so schlimm wie in der DDR , beteuerte Sascha und erzählte, wie sie vergeblich versucht hatten, in London Fish and Chips zu bekommen, während Catrin ihm kichernd zustimmte, von einem Fuß auf den anderen trat und ständig, in einer Weise, die Irina rasend machte, ihre Körperhaltung veränderte.
    – Womit stoßen wir an, fragte Sascha.
    – Whisky?
    – Egal, sagte Sascha. Es gibt nämlich einen Grund! Ich werde am Theater in Moers inszenieren. Vor zwei Tagen habe ich den Vertrag unterschrieben.
    Irina bemühte sich, ein erfreutes Gesicht zu machen.
    – He, Mama, das ist toll, sagte Sascha. Das ist das erste Mal, dass ich an einem richtigen Theater was inszeniere!
    – Na dann, prost, sagte Irina – und stutzte.
    – Hier scheint irgendwas anzubrennen, sagte Catrin.
    Tatsächlich: Sie hatte vergessen, das Gas herunterzudrehen … Rasch holte sie die Kasserolle aus dem Backofen. Das Wasser war völlig verdampft, und es qualmte gefährlich.
    – Soll ich helfen?, fragte Catrin.
    Aber Irina wehrte energisch ab.
    – Bringt ihr mal eure Sachen in Saschas Zimmer, ich mache das.
    Irina schloss die Küchentür und inspizierte den Schaden – er hielt sich in Grenzen. Sie entfernte ein Stück Haut vom Rücken der Gans, kratzte die Kasserolle aus, ließ sie kurz abkühlen. Inzwischen verrührte sie ein

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