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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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am Hut, so zielgerichtet, als kenne er sich hier aus. Charlotte trippelte hinterher, mit hochgezogenen Schultern.
    Dann waren sie in einer Baracke, ein bleicher Mann stöberte in ihren Papieren, und während Charlotte noch überlegte, ob man einen Zöllner im neuen Deutschland mit «Bürger» oder «Genosse» anredete, hatte Wilhelm die Angelegenheit geregelt und sogar schon ein Taxi bestellt.
    Was sie von der Stadt zu sehen bekamen, unterschied sich im Grunde kaum vom Hafen, und obwohl Charlotte auf den ersten Blick keine unmittelbare Zerstörung erkennen konnte, sah eigentlich alles zerstört aus: die Häuser, der Himmel, die Menschen, die ihre Gesichter hinter hochgeschlagenen Kragen verbargen.
    An einer Ecke wurde aus einer Tonne Suppe verkauft.
    Zwei Gestalten versuchten, einen über und über mit Gerümpel beladenen Leiterwagen den Bordstein hinaufzuziehen.
    Allmählich dämmerte Charlotte, dass der Hut mit dem schwarzen Halbschleier, den sie extra für die Rückkehr gekauft hatte, eine Fehlentscheidung gewesen war.
    Wilhelm kommandierte den Gepäckträger herum. Charlotte gab dem verdutzten Mann zwei Dollar Trinkgeld.
    – Du übertreibst, sagte Wilhelm.
    – Du auch, sagte Charlotte.
     
    Der Zug fuhr ein, gefährlich zischelnd. Es roch nach Eisenbahn: die typische Mischung aus Ruß und Exkrementen. Charlotte war lange nicht mehr Eisenbahn gefahren.
    Sie sah aus dem Fenster. Die Landschaft zog vorbei, zum gleichmäßigen Tam-Tam des Fahrwerks. Der Wald triefte vor Nässe. Auf den Brachen lagen die schmutzigen Reste des ersten Schnees. Aus einem Schrankenwärterhäuschen stieg Rauch auf, und gerade noch im Vorbeifahren erhaschte Charlotte, wie der Schrankenwärter begann, die Schranken hochzukurbeln.
    – Schrankenwärter, sagte Wilhelm. Triumphierend, als sei damit irgendetwas bewiesen.
    Charlotte reagierte nicht, schaute weiter aus dem Fenster. Versuchte, irgendetwas Tröstliches zu entdecken; versuchte, sich an dem backsteinroten Kirchturm zu erfreuen; versuchte, beim Anblick der Landschaft so etwas wie Heimatgefühle zu empfinden. Die von Bäumen gesäumten Chausseen, immerhin, erinnerten sie daran, dass es auch in Deutschland so etwas wie Sommer gab. Lauer Fahrtwind, Wilhelms BMW R 32 mit Beiwagen, in dem die Jungs saßen. Ahnungslos. Lachend.
    Der Zug hielt, die Abteiltür ging auf. Ein Hauch von Braunkohleruß und kaltem Regen wehte herein. Der Mann grüßte nicht, zog seinen Mantel nicht aus, als er sich setzte; es war ein abgewetzter dunkler Ledermantel. Seine Schuhe waren lehmverschmiert.
    Der Mann musterte sie kurz aus dem Augenwinkel, holte dann eine Brotbüchse aus seiner Aktentasche und entnahm ihr eine schon angebissene Klappstulle. Er kaute lange und gründlich, legte das zu drei Vierteln aufgezehrte Brot wieder in die Büchse hinein. Dann holte er das Neue Deutschland aus seiner Aktentasche und schlug es auf, und Charlotte fiel sofort eine Überschrift auf der ihr zugewandten Rückseite des Blattes ins Auge:
     
DIE PARTEI RUFT DICH!
     
    Charlotte schämte sich. Für ihren Hutschleier. Für ihre Angst. Für die fünfzig Dosen Nescafé in ihrem Koffer … Ja, die Partei brauchte sie. Dieses Land brauchte sie. Sie würde arbeiten. Sie würde mithelfen, dieses Land aufzubauen – gab es eine schönere Aufgabe?
    Der Mann hielt das ND jetzt so, dass sie den unteren Teil der Seite einsehen konnte: Nebensächlichkeiten, die sie aber plötzlich interessierten. Wie schön zu denken, dass sie, wenn sie wollte, tatsächlich heute abend ins Stern-Kino Berlin-Mitte gehen könnte – Weg zur Hoffnung wurde gespielt, Charlotte war bereit, auch das als gutes Omen zu nehmen, und es rührte sie – warum? – fast zu Tränen, als sie unter der Rubrik STREIFLICHTER las:
Bestellungen auf große Weihnachtsbäume sind bis spätestens 18. Dezember schriftlich oder telefonisch an die Konsumgenossenschaft Groß-Berlin aufzugeben.
     
    Der Mann klappte die Zeitung ganz auf, sodass für Charlotte die Titelseite sichtbar wurde, und wie von selbst fiel ihr Blick auf eine Bildunterschrift mit den Worten:
     
    Der Staatssekretär im Bildungsministerium, Genosse …
     
    Und jetzt hätte eigentlich kommen müssen: Karl-Heinz Dretzky.
    Kam aber nicht.
     
    Der Zug ruckelte über ein Weichenfeld. Charlotte taumelte im Gang hin und her, spürte kaum, wie sie anstieß. Mit Mühe erreichte sie die Toilette, riss – mit bloßen Händen – den Klodeckel auf und erbrach das wenige, was sie zum Frühstück gegessen hatte.
    Sie

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