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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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klappte den Deckel hinunter, setzte sich drauf. Das Tam-Tam der Zugräder ging ihr jetzt direkt in die Zähne, direkt in den Kopf. Sie spürte noch immer den kalten, prüfenden Blick, der sie über den Rand der Zeitung hinweg getroffen hatte. Schwarzer Ledermantel – ausgerechnet. Es war alles klar, alles passte zusammen.
    Eingeschleust hieß das entsprechende Wort. Eingeschleust durch den zionistischen Agenten Dretzky.
    Es quietschte und krächzte, als könnte der Zug auseinanderbrechen. Sie hielt ihren Kopf mit beiden Händen fest … Oder drehte sie durch? Nein, sie war ganz bei Verstand. War so klar im Kopf wie schon lange nicht mehr … Hätte wenigstens da gestanden: der neue Staatssekretär … Sie kicherte fast vor Vergnügen darüber, wie fein sie die Nuancen zu unterscheiden gelernt hatte. Der neue Staatssekretär: Das hieße, es gab einen alten … Aber es gab keinen alten. Er existierte nicht. Sie waren die Protegés eines Nichtexistenten. Sie waren selber so gut wie nichtexistent. Auf dem Ostbahnhof würden Männer in schwarzen Ledermänteln stehen, und Charlotte würde ihnen folgen, ohne Widerstand, ohne Lärm. Würde Geständnisse unterschreiben. Würde verschwinden. Wohin? Sie wusste es nicht. Wo waren die, deren Namen nicht mehr genannt wurden? Die nicht nur nicht existierten, sondern nie existiert hatten?
    Sie stand auf, nahm den Hut ab. Spülte den Mund aus. Betrachtete sich im Spiegel. Idiotin.
    Holte die Nagelschere aus ihrer Handtasche und trennte den Halbschleier von ihrem Hut ab. Wenigstens das wollte sie sich ersparen.
     
    Der Mann stand im Gang und rauchte, sie quetschte sich an ihm vorbei, ohne ihn zu berühren.
    – Wo warst du denn so lange, wollte Wilhelm wissen.
    Charlotte antwortete nicht. Setzte sich, schaute aus dem Fenster. Sah die Felder, die Hügel, sah sie und sah sie nicht. Staunte, dass sie jetzt vor allem Ärger empfand. Staunte darüber, was sie jetzt dachte. Sie dachte, dass sie an etwas Wichtiges denken müsste. Aber sie dachte an ihre Schweizer Schreibmaschine ohne «ß». Sie dachte daran, wer wohl in den Genuss der fünfzig Dosen Nescafé kommen würde. Sie dachte an die Königin der Nacht, die sie (zu einem miserablen Preis!) an den Blumenhändler zurückgegeben hatte. Und sie dachte, während draußen ein Film ohne Inhalt ablief, während ein Traktor über ein Feld kroch …
    – Ein Traktor, sagte Wilhelm.
    … während der Zug an einem kleinen, dreckigen Bahnhof hielt …
    – Neustrelitz, sagte Wilhelm.
    … während die Landschaft flacher und trostloser wurde, während monotone Spaliere aus Kiefern vorbeiflogen, unterbrochen von Brücken und Straßen und Bahnübergängen, an denen nie jemand stand, während Telegrafendrähte in sinnloser Eile von Mast zu Mast hüpften und Regentropfen schräg über die Scheibe zu kriechen begannen – sie dachte daran, wie Wilhelm vor fast einem Jahr in Puerto Angel im Liegestuhl gesessen hatte, dachte an die dürren, blassen Waden, die aus den Hosenbeinen herausstaken …
    – Nanu, der Schleier ist ab, sagte Wilhelm.
    – Ja, sagte Charlotte, der Schleier ist ab.
    Wilhelm lachte. Das Weiß der Augen blitzte auf in seinem braungebrannten Gesicht, und sein kantiger Schädel glänzte wie poliertes Schuhleder.
     
    Oranienburg: ein Wegweiser an der Straße. Erinnerungen an Ausflugskneipen, wo man für ein paar Pfennige Kaffee bekam und im Schatten einer Kastanie mitgebrachte Brote verzehrte; an Badestrände, an sonntäglich gekleidete Menschen, an die Stimmen von Händlern mit Bauchläden und an den Geruch heißer Bockwurst. Jetzt, bei der Durchfahrt, glaubte sie für eine Sekunde, es handle sich um ein anderes, ihr unbekanntes Oranienburg: eine Ansammlung sinnlos verstreuter Gebäude, die, wenn sie überhaupt je bewohnbar gewesen waren, allesamt verlassen aussahen.
    Ein zerborstener Mast. Militärfahrzeuge. Die Russen.
    Eine Frau mit Fahrrad stand am Bahnübergang, im Fahrradkorb ein Hund. Plötzlich wusste Charlotte, dass sie Hunde nicht leiden konnte.
    Dann Berlin. Eine abgebrochene Brücke. Zerschossene Fassaden. Dort ein zerbombtes Haus, das Innenleben entblößt: Schlafzimmer, Küche, Bad. Ein zerbrochener Spiegel. Fast glaubte sie, noch die Zahnputzbecher zu erkennen. Der Zug rollte an dem Gebäude vorbei – langsam, wie auf einer Stadtrundfahrt. Fast bedauerte Charlotte die Bewohner dieses Landes: Was für ein Aufwand!
    Nichts kam ihr bekannt vor. Nichts hatte mit der Metropole zu tun, die sie Ende der dreißiger

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