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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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dem Adrian sie durch eine Art unterirdisches Museum führte, und wenn sie erwachte, fand sie nicht wieder zurück in den Schlaf. Stundenlang lag sie im Dunkeln, spürte das Stampfen und Schlingern des Schiffs, spürte, wie sein Rumpf im Ansturm der Böen erzitterte. Und zehn andere auch, hatte Adrian gesagt. Warum hatte sie nicht wenigstens die Namen gelesen? Fragen. Was machte Kurt im Ural? Warum gelang es dem Roten Kreuz auch nach Jahren nicht, Werner zu finden? Sie war eine schlechte Genossin. Ihr Kopf, wenn sie ehrlich war, verstieß ständig gegen die Parteidisziplin. Und fast hätte auch ihr Körper dagegen verstoßen.
    Am Tag verkroch sie sich vor Wilhelm und versuchte Ordnung in ihren Kopf zu bekommen. Was wäre sie heute, fragte sie sich, ohne die Partei? Kunststopfen und Bügeln hatte sie gelernt an der Haushaltsschule. Noch heute würde sie kunststopfen und bügeln für Herrn Oberstudienrat Umnitzer, der sie mit seinen Schülerinnen betrog, noch heute würde sie sich die Herablassung ihrer Schwiegermutter gefallen lassen und sich darüber ärgern, dass Frau Paschke ihre Wäscheleine belegte – wenn nicht, mit Wilhelm, die Kommunistische Partei in ihr Leben getreten wäre.
    In der Kommunistischen Partei hatte sie zum ersten Mal Respekt und Anerkennung erfahren. Erst die Kommunisten, die sie ursprünglich für eine Art von Banditen gehalten hatte (als Kind hatte sie sich immer vorgestellt, dass sie in die Häuser eindrangen und die gemachten Betten einrissen, weil ihre Mutter erzählt hatte, die Kommunisten seien «gegen die Ordnung») – erst die Kommunisten hatten ihre Talente erkannt, hatten ihre Fremdsprachenausbildung gefördert, hatten sie mit politischen Aufgaben betraut, und während ihr Bruder Carl-Gustav, für dessen Kunststudium ihre Mutter in barbarischer Weise gespart hatte – Charlotte erinnerte sich noch jetzt mit Bitterkeit daran, wie sie, um Gas zu sparen, zum Bewachen des Pfeifkessels abgestellt wurde und wie die Mutter ihr mit dem Stullenbrett auf den Hinterkopf schlug, wenn sie es versäumte den Pfeifkessel rechtzeitig, nämlich bevor er pfiff, abzudrehen  –, während also Carl-Gustav als Künstler gescheitert und im Schwulenmilieu Berlins versackt war, kehrte sie, die nur vier Klassen der Haushaltsschule besucht hatte, heute nach Deutschland zurück, um ein Institut für Sprachen und Literatur zu übernehmen, und das Einzige, was ihr wehtat, war, dass ihre Mutter diesen Triumph nicht mehr erlebte; dass sie ihrer Mutter nicht noch ein lapidares Schreiben schicken konnte mit dem Briefkopf Charlotte Powileit. Institutsdirektorin .
    Aber dann kam wieder die Nacht. Der Schiffsleib schlingerte durch die Dunkelheit, und kaum war Charlotte eingeschlafen, war Adrian da und führte sie durch verschlungene unterirdische Gänge, an deren Ende etwas Schlimmes auf sie wartete … Sie erwachte von ihrem eigenen Schrei.
    Indessen schien es Wilhelm von Tag zu Tag besserzugehen. Eben noch, auf der anderen Seite des Ozeans, hatte er unter chronischer Schlaflosigkeit gelitten und sich über mangelnden Appetit beklagt. Aber je weniger Charlotte aß, desto größer schien Wilhelms Hunger zu werden. Er schlief gut, machte täglich, auch bei dem größten Dreckswetter, ausgedehnte Spaziergänge an Deck und beschwerte sich, wenn er mit seinem durchweichten, aber offenbar unverwüstlichen Tardan-Hut zurückkam, dass Charlotte die ganze Zeit in der Kabine hockte.
    – Ich bin seekrank, sagte Charlotte.
    – Auf der Hinfahrt warst du nicht seekrank, entgegnete Wilhelm.
    Er, der zwölf Jahre lang auf jeder Abendgesellschaft herumgestanden hatte wie ein vergessener Spazierstock, der bis zum Schluss kein spanisches Schild lesen konnte und Charlotte zu Hilfe rufen musste, wenn ihn ein Polizist ansprach, erwies sich auf einmal als Kenner und Liebhaber Mexikos und unterhielt die Gesellschaft am Kapitänstisch mit wirklich erstaunlichen Erlebnisberichten, und obwohl er seit seiner Hamburger Zeit – Lüddecke Import Export – immer in Rätseln und Andeutungen sprach, waren bald alle überzeugt, er habe den Weg zwischen den beiden Ozeanen zu Pferde zurückgelegt, habe in Puerto Angel vom Kanu aus Haifische geangelt und persönlich den vom Urwald überwucherten Maya-Tempel Palenque entdeckt – während Charlotte ihren Zwieback in Kamillentee tunkte.
     
    Der eisige Wind, mit dem sie das neue Deutschland empfing, schien Wilhelm nicht das Geringste auszumachen. Aufrecht stolzierte er durch das Hafengelände, die Hand

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