Ruge Eugen
überlegte Charlotte, ob sie Lisbeth zur Rede stellen sollte: Wieso in der Garderobe? Stattdessen riss sie den Mantel vom Haken, hielt ihn Nadjeshda Iwanowna hin.
– Wo ist eigentlich Kurt, fiel ihr ein. Warum hat er Sie nicht gleich mitgenommen?
– Ne snaju, sagte Nadjeshda Iwanowna: Weiß ich nicht.
Dann suchte sie ihren Ärmel, zuerst einen, dann den anderen, legte sich den Schal zurecht, knöpfte, während Charlotte von einem Fuß auf den anderen trat, Knopf für Knopf ihren Mantel zu, prüfte zweimal, ob ihre Schlüsselkette noch da war, prüfte noch einmal die Knopfleiste, suchte ihre Handtasche und sagte schließlich, nachdem ihr eingefallen war, dass sie gar keine Handtasche mitgebracht hatte:
– Nu wsjo, pojedu. – Ich fahre.
– Wieso denn fahren , sagte Charlotte. Peschkóm, zu Fuß!
– Njet, pojedu, beharrte Nadjeshda Iwanowna: Domoi! Nach Hause!
Vermutlich, dachte Charlotte, wollte sie nicht allein im Dunkeln den Weg gehen. Rasch lief sie in den Salon und rief Kurt an, damit er sie abholte – aber es meldete sich niemand. Unglaublich. Einfach die alte Frau hier sitzenlassen! Sie überlegte kurz und rief ein Taxi.
– Saditjes, sagte sie zu Nadjeshda Iwanowna. Sejtschas budjet taxí!
– Njet, nje nada taxí, sagte Nadjeshda Iwanowna.
– Nadjeshda Iwanowna, sagte Charlotte. Ja otschenj sanjata – ich habe zu tun! Bitte setzen Sie sich und warten Sie auf das Taxi.
Aber die alte Frau wollte kein Taxi. Laufen wollte sie nicht, Taxi wollte sie auch nicht. Diese Unschlüssigkeit machte Charlotte rasend.
– Spasiba sa wsjo, sagte Nadjeshda Iwanowna: Danke für alles.
Und ehe Charlotte sichs versah, war die alte Frau ihr um den Hals gefallen und umklammerte sie mit ihren Affenarmen. Charlotte versuchte vergeblich, ihre Nase von Nadjeshda Iwanownas Schal fernzuhalten, der nach Naphthalin und Russenparfüm roch – eine Mischung wie aus dem Waffenlabor.
Dann trippelte Nadjeshda Iwanowna in die Dunkelheit hinaus. Charlotte blieb einen Moment an der frischen Luft stehen und schaute der alten Frau hinterher, wie sie gebeugt und mit winzigen Schrittchen zum Gartentor ging – und verschwand. Ein Blatt segelte lautlos durch den Lichtkegel der Straßenlaterne, und Charlotte beeilte sich, wieder hineinzukommen, bevor die herbstliche Melancholie sie überfiel.
Einen Augenblick stand sie unschlüssig in der Diele. Es war noch jede Menge zu tun, sie wusste nicht, wo beginnen. In der Diele schien so weit alles in Ordnung zu sein. Nur die Blumen mussten entsorgt werden, aber das hatte natürlich noch Zeit. Ärgerlich war indes, dass die Beschriftung der Blumenvasen wieder mal nicht geklappt hatte, dachte Charlotte beim Anblick der Etiketten, die Irina – typisch! – erst auf den allerletzten Drücker besorgt hatte: zu spät, um sie zu beschriften. Denn als die Vasen erst einmal hier gestanden hatten, wusste man logischerweise nicht mehr, wem welche Vase gehörte – eine Tatsache, die jeder begriff, außer natürlich Lisbeth, welche die Etiketten trotzdem draufgeklebt hatte. Da standen sie nun, die Vasen, mit leeren Etiketten … Aber nanu?
Eines der Etiketten war beschriftet. Charlotte ging näher heran. Rote Buchstaben, Wilhelms Krakelschrift:
TSCHOW, stand da. Einfach nur: TSCHOW.
Handfeste Fakten. Charlotte löste das Etikett von der Vase, um es jener Eisenkassette zuzuführen, in der sie schon seit längerem alle wichtigen Dokumente aufbewahrte: Lisbeth konnte man ja nicht trauen. Die spionierte für Wilhelm. Allerdings war die Eisenkassette vierundvierzig Stufen entfernt. In die Hosentasche konnte sie das klebrige Ding schlecht stecken … Also klebte sie es einstweilen an ihre Strickjacke.
Sie ging in den Salon und rief Weihe an: ob er einen Fotoapparat habe.
– Habe ich, sagte Weihe.
– Ich melde mich, sagte Charlotte und legte auf.
Im selben Moment fiel ihr ein, dass sie nicht nach dem Blitzlicht gefragt hatte. Sie rief Weihe noch einmal an und fragte, ob er ein Blitzlicht habe.
– Habe ich, sagte Weihe.
– Ich melde mich, sagte Charlotte und legte auf.
Das war doch ein fabelhafter Kerl, dieser Weihe. Beide, auch Rosi, obwohl sie so krank war. Auf die konnte man sich verlassen. Charlotte überlegte, ob sie sich bei den Weihes schon für das Einsammeln der Blumenvasen bedankt hatte. Sicherheitshalber rief sie Weihe noch einmal an und bedankte sich für das Einsammeln der Blumenvasen.
– Aber Sie haben sich doch schon bedankt, Frau Powileit, sagte Weihe.
– Ich melde mich,
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