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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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hatte sie den Pfeifkessel bewacht, und das Komische war, nun war sie sechsundachtzig, ihr Bruder war lange tot, und sie saß immer noch hier und bewachte den Pfeifkessel … Warum, dachte sie, während das Zischeln allmählich in ein gleichmäßiges Rauschen überging, warum war sie es immer, die den Pfeifkessel bewachte … während andere studieren durften … während andere den Vaterländischen Verdienstorden bekamen …
    Das Rauschen setzte aus, ging in ein dumpfes Brodeln über. Charlotte stand auf und drehte das Gas ab, genau in dem Moment, als der Pfeifkessel im Begriff war, zu pfeifen. Mechanisch goss sie Wilhelms Abendtee auf, holte die Baldriantropfen aus dem Putzmittelschrank unter der Spüle. Gab einen Esslöffel davon in den Tee. Steckte die Baldriantropfen in die Hosentasche … stutzte. Hatte plötzlich zwei Fläschchen in der Hand: Beide gleich groß, kaum zu unterscheiden …
    Aberwitziger Gedanke. Charlotte nahm die Baldriantropfen aus der Hosentasche, stellte sie zurück in den Schrank und machte sich wieder an die Arbeit.
    Lisbeth hockte noch immer unter dem Tisch.
    – Du hockst ja noch immer unter dem Tisch, sagte Charlotte.
    Lisbeths Hintern bewegte sich unendlich langsam unter dem Tisch hervor. Sie zog einen Eimer mit Scherben hinter sich her sowie verschiedene Behältnisse, in denen sie noch verwertbare Reste gesammelt hatte.
    – Hast du noch ein paar Plastebehälter mitgebracht?, fragte sie. In der Hand hielt sie ein Würstchen.
    – Ach was, Plastebehälter, sagte Charlotte. Das kommt auf den Müll.
    – Das kommt nicht in den Müll, sagte Lisbeth und biss in die Wurst.
    Charlotte betrachtete Lisbeths kauendes Gesicht. Lisbeths Unterkiefer bewegte sich halb seitwärts, mahlend, wie der eines Wiederkäuers … Eine Weile sah Charlotte zu, wie sich Lisbeths Unterkiefer bewegte. Dann nahm sie ihr das Würstchen aus der Hand und warf es auf den Trümmerhaufen, der vom kalten Buffet übrig war. Nahm noch zwei von den Behältern, in denen Lisbeth Reste gesammelt hatte, und warf sie hinterdrein.
    – Was machst du denn da, rief Lisbeth und hielt ihre Hände schützend über die restlichen Behälter.
    Charlotte nahm den Eimer mit Scherben und kippte ihn ebenfalls aus.
    – Was machst du denn da! – Jetzt war es Wilhelms Stimme.
    – Du halt dich raus, sagte Charlotte. Du hast heute genug Schaden angerichtet.
    – Wieso ich, sagte Wilhelm. Das war der Zenk.
    – Ach, der Zenk war das! Charlotte lachte vor Wut: Jetzt war es der Zenk! Ich habe dir gesagt, du sollst die Finger von dem Ausziehtisch lassen!
    – Jaja, sagte Wilhelm. Das macht Alexander. Und, wo ist er, dein Alexander?
    – Alexander ist krank.
    – Papperlapapp, sagte Wilhelm. Politisch unzuverlässig.
    – Jetzt red keinen Unsinn, sagte Charlotte.
    – Politisch unzuverlässig, wiederholte Wilhelm. Die ganze Familie! Emporkömmlinge, Defätisten!
    – Es reicht, sagte Charlotte. Aber Wilhelm war nicht zu bremsen.
    – Da! – Er lachte, zeigte auf das Etikett, das an ihrer Strickjacke klebte. Da haben wir’s doch, krähte er. Läufst noch Reklame für den Verräter! … Und dann bellte er plötzlich. Legte den Kopf in den Nacken und bellte die Decke an: Tschow, bellte Wilhelm, tschow-tschow, und im Augenblick, als Charlotte beschloss, ihn tatsächlich für verrückt zu halten, schaute er sie mit vollkommen klarem Blick an und sagte:
    – Die wussten schon, warum.
    – Warum was , fragte Charlotte.
    – Warum sie solche Leute weggesperrt haben, sagte Wilhelm und fügte nach einer Pause hinzu: Solche wie deine Söhne.
    Charlotte atmete ein, konnte auf einmal nicht ausatmen … Sah Wilhelm an … Sein Schädel glänzte, die Augen blitzten in dem höhensonnengebräunten Gesicht … Der Bart – war er schon immer so klein gewesen? – hüpfte auf Wilhelms Oberlippe umher, ein Bärtchen, kaum größer als ein Insekt. Hüpfte, kreiste, summte vor ihren Augen … Dann war Wilhelm verschwunden. Nur seine Worte waren noch da, genauer gesagt, seine letzten Worte.
    Oder, noch genauer, das letzte.
     
    – Und was mache ich jetzt? Lisbeths Stimme. Soll ich den ganzen Mist wieder einsammeln?
    – Du gehst jetzt nach Hause, sagte Charlotte.
    Lisbeth schien nicht zu verstehen. Charlotte versuchte lauter zu sprechen:
    – Ich sage, du gehst jetzt nach Hause.
    – Aber Lotti, was soll denn das? Ich kann doch nicht
    – Du bist gekündigt, sagte Charlotte. In drei Minuten verlässt du das Haus.
    – Aber Lotti …
    – Und nenn mich

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