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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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bitten, ihr ein paar von diesen verdammten Etiketten zu besorgen … Dabei waren Wilhelm die Blumen sowieso vollkommen gleichgültig. Irina erinnerte sich gut daran, wie er letztes Jahr in seinem Ohrensessel gesessen und – einem Kind gleich, das immer denselben Witz wiederholt – jeden Gratulanten mit demselben Satz abgewatscht hatte:
    – Stell das Gemüse in den Blumentopf!
    Und seine Schranzen hatten jedes Mal schallend gelacht, als wäre das sonst was für eine Geistesleistung.
    Wilhelm hörte schon lange nicht mehr gut. Halb blind war er auch. Er saß nur noch in seinem Ohrensessel, ein Skelett mit Schnurrbart, aber wenn er die Hand hob und sich anschickte, etwas zu sagen, verstummte alles und wartete geduldig, bis er ein paar krächzende Laute hervorbrachte, die anschließend eifrig von allen Anwesenden interpretiert wurden. Jedes Jahr bekam er irgendeinen Orden verliehen. Jedes Jahr wurden irgendwelche Reden gehalten. Jedes Jahr wurde derselbe miserable Kognak in denselben bunten Aluminiumbechern serviert. Und jedes Jahr, so schien es Irina, war Wilhelm von noch mehr Schranzen umgeben, sie vermehrten sich, eine Art Zwergengeschlecht, lauter kleine Leute in speckig grauen Anzügen, die Irina nicht unterscheiden konnte, die immerzu lachten und eine Sprache sprachen, die Irina tatsächlich, auch beim besten Willen, nicht verstand. Wenn sie die Augen schloss, wusste sie schon jetzt, wie sie sich am Ende dieses Tages fühlen würde, spürte ihre vom falschen Lächeln erstarrenden Wangen, roch die Majonäse, die ihr aufstieß, nachdem sie aus lauter Langeweile das kalte Buffet durchprobiert hatte, schmeckte das Aluminium-Aroma des in bunten Bechern servierten Kognaks.
    Ohnehin betrat sie das Haus ihrer Schwiegereltern nicht gern, schon der Gedanke daran war ihr unangenehm. Sie hasste die dunklen, schweren Möbel, die Türen, die Teppiche. Alles in diesem Haus war dunkel und schwer. Alles erinnerte sie an ihre Leidenszeit, sogar die toten Tiere, die Wilhelm an die Wände genagelt hatte. Nein, auch nach dreiunddreißig Jahren hatte sie nicht vergessen, wie es war, die Ritzen in der holzvertäfelten Flurgarderobe zu putzen. Wie sie Haferflocken hatte kochen müssen für Wilhelm: Unten an der Treppe stehen und lauschen, wann Wilhelm oben aus dem Badezimmer kam, und dann – husch! – in die Küche, die Flocken einrühren, damit sie, wenn sie serviert wurden, nicht klebten … Nie im Leben war sie so hilflos gewesen: der Sprache nicht mächtig, wie eine Taubstumme, die verzweifelt in den Gesten und Blicken der anderen Orientierung sucht.
    Und Kurt?
    Kurt hatte, während sie, das Kind am Rockzipfel, in der Wäschekammer stand und Wilhelms Hemden bügelte, bei Charlotte auf dem Sofa gesessen und Weintrauben gefuttert. So war das gewesen. Zusammen mit dieser Frau Stiller.
    Frau Doktor Stiller, pardon.
    Sie hörte, wie Kurt ins Zimmer kam, irgendwas auf den Tisch stellte, wieder in die Küche ging. Jetzt war es gleich halb neun. Bis zehn Uhr musste sie die Blumen abgeholt haben. Dann noch ins Russenmagazin, die Belomorkanal holen. Außerdem wollte sie noch Pelmeni kochen – wenn Sascha schon mal zum Mittagessen kam.
    Aber Kurt bestand darauf, dass sie liegen blieb, bis er den Kopf durch den Türspalt steckte und sie mit kindlicher Stimme zum Frühstück rief. Und Irina tat ihm den Gefallen. Warum eigentlich?
    Sie betrachtete sich in dem großen, ovalen Spiegel, der schräg über ihr an der Stirnseite des Bettes hing … Lag es am Licht? Oder daran, dass man sich in diesem verdammten Spiegel immer auf dem Kopf stehend sah? Der Spiegel kommt auch mal weg, dachte Irina und erinnerte sich im selben Moment daran, dass sie diesen Gedanken schon des Öfteren gedacht hatte: immer sonntags, wenn Kurt Frühstück machte und sie hier lag und sich im Spiegel betrachtete.
    Das Schlimmste war, dass sie anfing, in ihrem Gesicht Züge ihrer Mutter zu entdecken. Diese Tatsache entmutigte Irina. Gewiss, sie konnte noch immer ziemlich gut aussehen. Horst Mählich, mit seinen Hundeaugen, würde ihr heute wieder inbrünstige Komplimente machen, und selbst dieser ewig grinsende neue Bezirkssekretär, ein geschlechtsloses Wesen, das eher aus Kunststoff als aus Fleisch zu bestehen schien – im Gegensatz zu dem alten, der zwar klein und dick, aber dennoch ein Mann gewesen war, sogar imstande, einer Dame die Hand zu küssen –, selbst dieser neue Bezirkssekretär würde sich, wenn er sie begrüßte, einmal mehr verbeugen als nötig, und

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