Ruge Eugen
Iwanowna, das Gespenst, das ihre Zukunft verkörperte.
Das Gespenst schlurfte näher, blieb unsichtbar hinter der halbgeöffneten Wohnzimmertür stehen, murmelte irgendwas.
Irina riss die Tür auf:
– Was willst du?
Irina sprach Russisch mit ihrer Mutter; in den dreizehn Jahren, die Nadjeshda Iwanowna hier lebte, hatte sie kein Wort Deutsch gelernt, abgesehen von Guten Tag und Auf Wiedersehen – was sie bedauerlicherweise aber zumeist verwechselte.
– Wann Sascha wohl heute kommt, fragte Nadjeshda Iwanowna.
– Woher soll ich wissen, wann Sascha kommt, fauchte Irina. Setz dir lieber deine Zähne ein und frühstücke was!
– Brauche kein Frühstück, sagte Nadjeshda Iwanowna und schlurfte zum Bad.
Irina setzte sich und fingerte eine «Club» aus der Schachtel.
– Iss doch erst mal was, sagte Kurt.
– Ich muss erst eine rauchen, beharrte Irina.
– Iruschka, du musst dich nicht über alles so aufregen, sagte Kurt. Guck, wie schön die Sonne scheint.
Er machte eine Fratze, um Irina aufzumuntern.
– Brauche kein Frühstück, äffte Irina ihre Mutter nach.
– Sie verhungert schon nicht, sagte Kurt.
Irina winkte ab. Kurt hatte gut reden, er kümmerte sich nicht um Nadjeshda Iwanowna. Er wusste nicht, wie es in ihrem Zimmer aussah: die verschimmelten Lebensmittel, die Irina dort ständig fand, weil Nadjeshda Iwanowna immerzu irgendwelches halbverdorbenes Zeug in ihr Zimmer schleppte, um es dort zu essen – heimlich, weil sie partout beweisen wollte, dass sie niemandem zur Last fiel. Kurt musste nicht das Geschirr nachspülen, das Nadjeshda Iwanowna aus notorischer Sparsamkeit in lauwarmem Wasser und ohne Spülmittel abwusch. Er musste nicht die Gurkenepidemie ertragen, die jedes Jahr um diese Zeit ausbrach, weil Nadjeshda Iwanowna sich unbedingt «nützlich» machen wollte, indem sie tage- und wochenlang die Küche okkupierte, um ihre selbstgeernteten Gurken einzulegen – eine Tätigkeit, die in Russland, im Ural, ihren Sinn gehabt hatte, die aber hier, wo man ein Glas saure Gurken für ein paar Pfennige in jedem Laden kaufen konnte, vollkommen sinnlos war.
– Furchtbar, sagte Irina, wenn man von lauter alten Leuten umgeben ist.
– Soll ich ausziehen, fragte Kurt.
Besonders komisch fand Irina das nicht, aber als sie zu Kurt hinübersah, als sie ihn da sitzen sah mit seinem vom Leben zerfurchten Gesicht, seinen immer mehr ausufernden Augenbrauen (vor der Geburtstagsfeier unbedingt nachschneiden!) und seinen blauen Augen, von denen eines seit der Kindheit blind war und sich allmählich abgewöhnt hatte, die Bewegungen des anderen nachzuvollziehen (ein Makel, den Irina nach vierzig Ehejahren kaum noch bemerkte, wenngleich sie ihn gern zur Erklärung von Kurts Charakterfehlern heranzog, zum Beispiel seines übermäßigen Ehrgeizes und seiner notorischen Fremdgeherei) – als sie ihn so dasitzen sah, spitzbübisch über den eigenen Scherz schmunzelnd, verspürte sie plötzlich Zuneigung zu diesem Menschen. Mehr noch, sie verspürte die überraschende Versuchung, ihm alles zu verzeihen – jedenfalls in diesem Moment, da sie gewahr wurde, dass auch Kurt alterte; wenigstens in dieser Hinsicht ließ er sie nicht im Stich.
– Weißt du, Iruschka, sagte Kurt, heute ist Sonntag, wer weiß, wie lange das schöne Wetter noch anhält. Lass uns ein bisschen rausfahren in den Wald, Pilze suchen oder irgendwas.
– Du suchst doch nicht gern Pilze, sagte Irina.
Und nicht nur dass Kurt nicht gern Pilze suchte – er fand auch nie welche. Was Irina aber, weil sie es mit dem blinden Auge in Verbindung brachte, nicht aussprach.
– Aber ich gucke gern zu, wie du Pilze suchst, erwiderte Kurt.
– Kurtik, ich muss Essen machen, ich muss das Geschenk holen für Wilhelm …
– Was denn für ein Geschenk?
Irina verdrehte die Augen.
– Wilhelm bekommt seit dreißig Jahre dasselbe Geschenk!
Es handelte sich um zehn Schachteln Belomorkanal : klassische russische Papirossy, die Irina im Buffet des sogenannten Hauses der Offiziere für ihn besorgte – abscheuliches Zeug eigentlich, das Wilhelm aus reiner Angeberei rauchte, um seinen Genossen vorzuführen, wie er das Pappmundstück zu knicken verstand, während er seine drei Brocken Russisch zum Besten gab und vage Andeutungen über seine «Moskauer Zeit» machte.
– Iruschka, wandte Kurt ein, Wilhelm raucht seit zwei Jahren nicht mehr.
Das Dumme war: Kurt hatte recht. Nach seiner schweren Lungenentzündung (allerdings hatte er schon mehrere schwere
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