Ruge Eugen
dabei würde, wenn nicht Bewunderung, so doch etwas wie Verlegenheit in dem Blick aufscheinen, der knapp an ihr vorbeiginge.
Aber das alles änderte nichts daran, dass das Alter spürbar und unwiderruflich vorrückte, und seit ihre Mutter mit im Hause wohnte (Irina hatte sie vor dreizehn Jahren unter unvorstellbarem bürokratischem Aufwand aus Russland herübergeholt), hatte sie täglich vor Augen, wohin dieses Vorrücken führte. Natürlich hatte sie schon immer gewusst, dass man alt wurde. Aber die Anwesenheit ihrer Mutter brachte ihr täglich die Vergeblichkeit ihres Kampfes zu Bewusstsein, nagte an ihr, setzte in ihrem Kopf ketzerische Ideen in Umlauf, flüsterte ihr die Versuchung ein, aufzugeben – als Frau. Wozu Stützstrumpfhosen und Zahnfleischbehandlungen, wozu Haarteile und Schönheitsmilch, wozu alles Zupfen und Übermalen? Um irgendwelchen uninteressanten alten Männern mit Funktionärshaarschnitten zu imponieren? Um des kleinlichen Vergnügens willen, jedes Jahr wieder über Frau Stiller, Pardon, Dr. Stiller zu triumphieren, deren Figur mehr und mehr einem Kartoffelsack glich und deren Gesicht sich infolge einer Bluthochdruckkrankheit mehr und mehr rötete?
Das Telefon klingelte.
Wieder knarrten Kurts Schritte über sechs Meter Parkett. Vorbei an dem Lümmelsofa. Dicht an der Schlafzimmertür entlang, und dann, endlich, seine Stimme:
– Ja, Mutti.
Unglaublich, dachte Irina, wie freundlich, wie geduldig Kurt mit Charlotte war.
– Nein, Mutti, sagte Kurt, jetzt ist es halb neun. Wenn ihr um elf verabredet seid, dann kommt Alexander in zweieinhalb Stunden.
Im Grunde, im tiefsten Herzen, kränkte es Irina. Ja, sie empfand es als eine andauernde, schwere Ungerechtigkeit: als weigere Kurt sich bis heute einzusehen, was Charlotte ihr damals angetan hatte.
– Mutti, ich weiß doch nicht, wann ihr verabredet seid, sagte Kurt.
Wie den letzten Dreck hatte Charlotte sie behandelt. Wie ein Dienstmädchen. Und am liebsten, dachte Irina, hätte Charlotte sie wieder zurückgeschickt, in ihr russisches Dorf – und Kurt mit Frau Dr. Stiller verkuppelt.
Sie hörte Kurt in die Küche zurücktapsen. Herrgott, wie lange brauchte denn dieser Mensch, um ein Stück Käse auszuwickeln und zwei Teller hinzustellen? Und am Ende bildete er sich noch ein, er würde etwas zur Hausarbeit beitragen. Dabei schadete er mehr, als er nutzte. Einmal hatte er vergessen, die Kanne unter die Kaffeemaschine zu stellen. Ein anderes Mal gab es ungekochte Eier zum Frühstück – aber das Wasser hatte er exakt dreieinhalb Minuten gekocht!
Der einzige Lichtblick heute: dass Sascha zum Mittag kam. Das, dachte Irina, während sie die Decke abwarf, um ein paar Yoga-Übungen zu machen (oder was sie dafür hielt) – das war die einzige angenehme Begleiterscheinung dieses Geburtstags.
Wie jeder andere hatte nämlich auch Sascha seine «spezielle Aufgabe» – Charlotte liebte es, alle Leute mit «speziellen Aufgaben» zu betrauen, es gab sogar einen Blumenpapier-Verantwortlichen und einen Verantwortlichen für das Abwischen der infolge der schlecht funktionierenden Abfüllautomaten ständig verklebten Vita-Cola-Flaschen. Sascha war für das Ausziehen des Ausziehtischs verantwortlich. Aus irgendeinem Grund hatte sich Charlotte in den Kopf gesetzt, dass Sascha der Einzige sei, der den Ausziehtisch ausziehen konnte. Das war idiotisch, aber Irina hütete sich, an diesen Irrtum zu rühren. Wenn nämlich Sascha, für elf Uhr bestellt, mit dem Ausziehen des Ausziehtischs fertig war, lohnte sich für ihn die Rückfahrt nach Berlin nicht, sodass er die Zeit bis zum Beginn der Geburtstagsfeier gewöhnlich im Fuchsbau blieb, und dann würden sie, wie jedes Jahr, zusammen Pelmeni essen, mit saurer Sahne und Senf, wie Sascha es mochte.
Falls Catrin nicht mitkam.
Sie hatte nichts gegen Catrin mit C ohne h (und Betonung auf i: Catrín!), abgesehen davon, dass sie nicht verstand, wieso Sascha sofort bei dieser Frau hatte einziehen müssen. Immer zog er sofort mit den Frauen zusammen, anstatt erst mal abzuwarten, sich ein bisschen kennenzulernen. Mal zu schauen, ob das überhaupt ging. Er hätte so schön hier wohnen können: Irina hatte extra den Dachboden ausgebaut, eine komplette Wohnung, praktisch, mit eigenem Bad.
Nein, sie hatte nichts gegen Catrin, dachte Irina, während sie eine passable Kerze zustande brachte, wobei es ihr, wenn sie ganz ehrlich war, rätselhaft blieb, was Sascha an dieser Frau fand … Natürlich, es ging sie nichts an.
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