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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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Jahre verlassen hatte. Geschäfte mit armseligen, handgemalten Schildern. Leere Straßen. Kaum ein Auto, wenige Passanten.
    Dann wieder eine Menschenschlange vor einem Gebäude. Standen dort, stumpfsinnig, grau.
    Ein paar Arbeiter, die inmitten dieser Hoffnungslosigkeit ein winziges Stück Straße flickten.
    Dann begannen die Gleise sich zu verzweigen.
    – Ostbahnhof, sagte Wilhelm.
    Mit weichen Knien stolperte Charlotte durch den Gang. Die Zugbremsen quietschten. Wilhelm stieg aus, nahm die Koffer entgegen. Charlotte stieg aus. Der Bahnhofshimmel – das Erste, was sie wiedererkannte. Die Tauben auf den Stahlträgern. Drüben vom S-Bahnsteig her die schwungvolle Ansage:
    – Zuuurückbleimbitte!
    Vorsichtig sah Charlotte sich auf dem Bahnsteig um.
    – Du bist ja ganz gelb im Gesicht, sagte Wilhelm.

1. OKTOBER 1989
    Der Irrsinn begann kurz vor acht Uhr morgens.
    Es war Sonntag.
    Es war still.
    Einzig das gedämpfte Tschilpen der Spatzen drang, wenn man hinhörte, durch das halbgeöffnete Schlafzimmerfenster und brachte einem zu Bewusstsein, wie still es war. Es war die Stille eines abgeschnittenen Ortes, der seit über einem Vierteljahrhundert im Windschatten der Grenzanlagen vor sich hin dämmerte, ohne Durchgangsverkehr, ohne Baulärm, ohne moderne Gartengeräte.
    In diese Stille hinein schrillte das Telefon in heimtückischen Abständen.
    Manchmal glaubte Irina, schon an der Art des Klingelns zu erkennen, dass es Charlotte war. Sie lag rücklings im Bett, mit angezogenen Beinen, hörte durch die Schlafzimmertür, wie Kurt aus der Küche kam, wie das Parkett unter seinen Füßen knarrte, während er die sechs Meter Raumlänge durchmaß. Wie er endlich den Hörer abnahm und sagte:
    – Ja, Mutti.
    Irina schloss die Augen, schürzte die Lippen. Versuchte, ihren Ärger zu unterdrücken.
    – Nein, Mutti, sagte Kurt. Alexander ist nicht bei uns.
    Wenn er mit Charlotte sprach, sagte er «Alexander» statt Sascha, was in Irinas Ohren merkwürdig klang: dass ein Vater den eigenen Sohn «Alexander» nannte – so sagte man im Russischen nur, wenn man sich siezte.
    – Wenn ihr um elf verabredet seid, sagte Kurt, dann wird Alexander wohl um elf kommen … Hallo? … Hallo!
    Offenbar hatte Charlotte aufgelegt – ihre neueste Masche: einfach aufzulegen, wenn sie das Interesse an dem Gespräch verlor oder wenn sie die Informationen, die sie brauchte, bekommen hatte.
    Kurt ging zurück in die Küche.
    Irina hörte ihn scharren und klappern: Frühstück machen. Seit neuestem hatte Kurt sich in den Kopf gesetzt, dass er am Wochenende das Frühstück machte – wohl um zu beweisen, dass auch er für die Gleichberechtigung war.
    Irina verzog das Gesicht und trauerte für ein paar Sekunden der verlorenen Morgenstunde nach: der einzigen Stunde, die ihr gehörte, wenn niemand anrief, niemand ihr auf die Nerven ging, sie in aller Stille ihren Kaffee trank und ihre erste Zigarette rauchte, bevor sie sich an die Arbeit machte, was für ein Genuss. Wie auch das winzige Schnäpschen, das sie sich manchmal, in letzter Zeit, genehmigte. Nur eins, da war sie eisern. Um sich zu wappnen für den Tag. Um den Irrsinn auszuhalten.
    Ihrsinn , wie Irina sagte.
    Seit Wochen ging das jetzt so: Täglich rief Charlotte an, bestellte irgendwas, erteilte Aufträge, nahm sie wieder zurück, änderte sie, erteilte sie erneut: Ob Irina selbstklebende Etiketten besorgen könne für die Beschriftung der Blumenvasen. Wie jedes Jahr hatte Charlotte Blumenvasen in ganz Neuendorf zusammengeborgt, und obwohl es immer problemlos geklappt hatte, hatte Charlotte sich plötzlich in den Kopf gesetzt, dass die Blumenvasen beschriftet werden müssten, damit jeder die richtige Vase zurückbekam.
    Warum eigentlich? Warum, fragte sich Irina, war sie tatsächlich losgefahren und hatte diese verdammten Etiketten besorgt? Einen halben Tag lang hatte sie sämtliche Schreibwarengeschäfte der Stadt abgeklappert – das sagte sich leicht: Parkplätze suchen, Baustellen umfahren (immer die gleichen, sich seit Jahren nicht von der Stelle bewegenden Baustellen), an der Tankstelle anstehen (eine halbe Stunde lang sich mit Dränglern herumstreiten), sich über vergebliche Wege ärgern, weil man, wenn man endlich einen Parkplatz gefunden hatte, am Geschäft ein Schild «Wegen Inventur geschlossen» vorfand – und war am Ende, weil es natürlich in keinem einzigen Schreibwarenladen Etiketten gab, mit einer Flasche Kognak zur DEFA gefahren, um den Chef des Großbildlabors zu

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