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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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Und sie hütete sich, auch nur ein Sterbenswörtchen zu sagen. Dennoch wunderte sie sich, dass ein so gutaussehender, intelligenter junger Mann keine bessere Frau fand. Schauspielerin, angeblich. Sah er denn wirklich nicht, dass diese Frau hässlich war? Unschöne Knie, keine Taille, kein Po. Und ein Kinn, um ehrlich zu sein, wie ein Bauarbeiter … Schöne Augen hatte sie, das musste man ihr lassen. Obwohl, andererseits: dieser flatternde Blick, diese Unruhe in den Augen, wenn man sich mit ihr unterhielt … Nie hatte Irina das Gefühl, ihr wirklich nahezukommen. Immer schien diese Frau woanders zu sein, immer schien sie, und zwar fieberhaft, zu überlegen, immer ging, während sie einen anlächelte, etwas in ihrem Kopf vor.
    Egal, dachte Irina und betrachtete ihre ausgestreckten Beine, die sie, wenn sie aufrichtig war, doch noch ziemlich ansehnlich fand, zumal im Vergleich mit Catrins Staketenbeinen, sodass sie beschloss, nicht das lange Rückenfreie anzuziehen, wie im letzten Jahr, sondern, obschon weniger festlich, den ozeangrünen Rock, der eigentlich ein bisschen kurz war für ihr Alter – egal, dachte Irina, sollen sie glücklich werden, oder auch nicht, aber einmal im Jahr, dachte sie, sollte es möglich sein, dass Sascha allein nach Hause kam. Einmal im Jahr wollte sie mit Sascha Pelmeni essen wie früher. Was war daran verwerflich? Zumal Catrin ohnehin nicht gern Pelmeni aß. Und nach dem Essen, so stellte Irina es sich vor, als sie die Kerze mit leisem Stöhnen beendete, nach dem Essen würde Sascha sich oben ein bisschen hinlegen, und dann würden die Männer sich in Kurts Zimmer setzen und eine Partie Schach spielen. Irina liebte es, wenn die Männer in Kurts Zimmer eine Partie Schach spielten und dazu ein Gläschen Kognak tranken, und auch sie, Irina, würde sich, sobald sie mit dem Geschirr fertig war, ein Gläschen Kognak eingießen und sich schweigend – versprochen! – dazusetzen (und Sascha höchstens mal unter dem Tisch anstoßen, falls er einen gefährlichen Zug übersah). Anschließend würden sie zusammen zur Geburtstagsfeier gehen – eine erträgliche, ja beinahe angenehme Vorstellung, jedenfalls soweit sie den kleinen Spaziergang durch das herbstliche Neuendorf betraf, eine Vorstellung, die geeignet war, noch fernere, noch unwahrscheinlichere Erinnerungen heraufzubeschwören, Erinnerungen an eine Zeit, als das Laub in Neuendorf noch verbrannt wurde, als Sascha noch an der Hand neben ihr hertrippelte …
    Aber da klingelte zum dritten Mal an diesem Morgen das Telefon. Ehe sie sichs versah, war Irina aufgesprungen und hatte den Hörer in der Hand.
    – Kannst du uns einmal in Ruhe frühstücken lassen, fauchte sie, ohne Charlotte überhaupt zu Wort kommen zu lassen.
    Knallte den Hörer auf, starrte einige Augenblicke das Telefon an, als wäre es ein Tier, das sie gerade erlegt hatte, und wäre wohl imstande gewesen, es im nächsten Augenblick mit einem Schlag zu zertrümmern – aber es klingelte nicht noch einmal.
    – Du musst dich nicht so aufregen, sagte Kurt.
    Er stand hinter ihr, einen Eierbecher (mit Ei!) in jeder Hand.
    – Du verteidige sie noch, fauchte Irina.
    Kurt erwiderte nichts, stellte die Eierbecher ab und umarmte Irina. Es war eine väterliche, ganz absichtslose Umarmung, bei der Kurt beide Arme ganz um Irinas Körper schlang und sie sanft hin und her wiegte: «Trösten» hieß das in ihrer internen Sprache, und obwohl es Irina zuerst widerstrebte, ließ sie sich im Grunde genommen gern trösten, und sobald Kurt sie auf diese Weise in die Arme nahm, stellte sich ganz automatisch das Gefühl ein, dass sie Grund hatte, sich trösten zu lassen: für alles Verlorene, für alles, was das Leben, und auch für alles, was Kurt ihr angetan hatte. Irina lehnte ihren Kopf an Kurts Schulter, ließ sich von ihm hin und her wiegen. Im gleichen Moment öffnete sich krächzend die Zimmertür ihrer Mutter – was dazu führte, dass Irina erstarrte und auf das Schlurfgeräusch lauerte, das wenige Sekunden später einsetzen musste … Unwillkürlich sah sie im Geist die gebeugte Gestalt mit ihrer selbstgestrickten Nachtmütze, in der sie zu allen Jahreszeiten schlief, der Schlüsselkette, die sie zu jeder Tageszeit um den Hals trug, als müsste sie fürchten, dass Irina sie hinterrücks aussperrte, sah die jämmerlichen, mehr an Lappen als an Schuhe erinnernden Pantoffeln, die ihre Mutter am liebsten trug, weil ihre von Überbeinen verunstalteten Füße schmerzten … Nadjeshda

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