Ruge Eugen
Alexander den Sänger an. Die aberwitzige Fliege, das glänzende, pechschwarze Haar, die weißen Zähne, die unter dem Schnurrbart aufblitzen und Laute formen, die genau denen auf der Schellackplatte entsprechen, die vor tausend Jahren in tausend Stücke zersprungen ist …
Natürlich kann das alles nicht stimmen. Wahrscheinlich eine Sinnestäuschung. Ein Trickbetrug.
México lindo y querido
si muero lejos de ti
que digan que estoy dormido
y que me traigan aquí
Das Lied ist zu Ende. Er merkt, dass ihm Tränen über die Wangen laufen. Die Musiker lachen. Der Sänger fragt ihn:
– Americano?
– Alemán, sagt Alexander leise.
– Alemán, wiederholt der Sänger, laut, für die anderen.
– Ah, Alemán, sagen sie.
Hören auf zu lachen. Nicken anerkennend, als sei er den Weg von Deutschland zu Fuß gelaufen. Der Sänger klopft ihm auf die Schulter.
– Hombre, sagt er.
Alexander geht. Die Musiker winken.
Er geht langsam. Er singt. Es sind jetzt weniger Menschen auf der Straße. Er kauft ein Bier. Die Tränen trocknen auf seinen Wangen. Er atmet die Nachtluft, sie ist jetzt kühler. Vielleicht nur, dass die Körperwärme der Menge fehlt? Die Trillerpfeifen schweigen. Sterne sind nicht zu sehen. Er ist in Mexiko. Wie viele Jahre galt es als sicher, dass er dieses Land niemals, nie im Leben betreten würde? Jetzt ist er hier. Jetzt geht er durch diese Stadt. Trickbetrug alles. Die Mauer. Der Krebs. Wer sagt, dass ich Krebs habe? Plötzlich, wenn er zurückdenkt, kommt ihm das alles irrsinnig vor. Die Diagnose: eine Behauptung. Das Krankenhaus: eine durchgeknallte Maschinerie, die Krankheitsbezeichnungen produziert. Was denn für eine Krankheit? Irgendwelche pH-Werte, irgendein Scheiß. Einfach weggehen. Sich losreißen aus dieser kranken, krankmachenden Welt …
Hier bin ich. Ich grüße dich, große Stadt. Ich grüße den Himmel, die Bäume, die Löcher im Asphalt. Ich grüße die Tortillaverkäuferinnen und die Musikanten. Ich grüße euch alle, die ihr auf mich gewartet habt. Ich bin da. Ich habe mir einen Hut gekauft. Das ist der Anfang.
Hätte er den Musikanten Geld geben müssen?
Dieser Verdacht ist das Einzige, was ihn, als er einschläft, ein wenig beunruhigt.
Am Morgen wecken ihn die Hunde. Welche Hunde? Er schaut aus dem Fenster. Tatsächlich, auf dem Dach des Nachbarhauses zwei große Mischlinge, einer zottig, einer kahl. Was bewachen sie dort? Den Schornstein? Das Dach?
Halb sechs, zum Aufstehen zu früh (obwohl es in Deutschland – er rechnet – halb dreizehn sein müsste). Er zieht die Decke über den Kopf, es hilft nicht. Die Fenster sind einfach verglast, die Frequenzen durchdringend. Ein Heulen zuerst, dann ein Bellen. Einer der Heuler, der andere der Beller. Der Heuler fängt an, der Beller stimmt ein: Huhu – waffwaff.
Er steht auf, um zu sehen, welcher heult und welcher bellt. Es ist der Zottige, der heult. Der Kahle, der bellt.
Pause. Jetzt wartet er schon darauf: Huhu – wo bleibt das Waff-waff?
Die Ohropax fallen ihm ein. Er hat noch Ohropax in seinem Waschbeutel: von Marion, sie hat sie ihm damals ins Krankenhaus mitgebracht. Ohropax aus Kunststoff, so neumodisches Zeug. Aber besser als gar nichts.
Als er wieder im Bett liegt, fällt es ihm ein: Marion! Er hat vergessen, sie anzurufen. Nicht vergessen, hat es nicht mehr geschafft … Die Ohropax knirschen vorwurfsvoll in seinen Ohren. Das halbplastische Material dehnt sich aus, hat die Neigung, wieder aus den Ohren herauszukriechen … Er wird ihr schreiben, denkt er. Liebe Marion, wird er schreiben, du wirst dich wahrscheinlich wundern … Ich bin in Mexiko, weil ich … Ja, was? Auf den Spuren der Oma … Na, wunderbar … Liebe Marion … Und wie erklärt er ihr, dass er nicht angerufen hat?
Liebe Marion, ich kann gerade gar nichts erklären. Ich bin plötzlich in Mexiko. Gut, dass ich die Ohropax habe, es gibt hier auf dem Dach Hunde … Aber ehrlich gesagt: Knirschen. Das nächste Mal, bitte, wenn es geht … Oder ein Schlafmittel. Und zwar für die Hunde … Huhu … Welcher war nochmal welcher? Einer heult, und der andere ist jetzt ganz klein. Hörst du? Im Hintergrund. Hinter dem Knirschen … Huhu … Wo bleibt das … Waff … waff …
Er wacht auf, grelle Sonne im Zimmer. Um acht. Er steht auf, duscht sich. Betrachtet sich eine Weile im Spiegel. Überlegt, ob er sich rasiert. Setzt seinen neuen Hut auf. Was sieht er?
Na, was wohl: Einen Mann mit Hut. Siebenundvierzig. Blass.
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