Ruge Eugen
Unrasiert.
Er sieht älter aus, als er ist.
Er sieht gefährlicher aus, als er ist.
Das genügt ihm fürs Erste.
Der Frühstücksraum des Hotels ist ihm zu steril. Zu europäisch. Er frühstückt im Café gegenüber. Ein altes Etablissement, fast Wiener Kaffeehausatmosphäre, seltsam nur die nackten, knallweißen Neonröhren, die das Ganze beleuchten. Die indianische Kellnerin sieht gelb aus in diesem Licht. Er verlangt ein typisch mexikanisches Frühstück. Er bekommt etwas Unklares, Pampiges. Rot und grün. Der Kaffee immerhin, der aus einer Metallkanne nachgeschenkt wird, ist gut. Beinahe dickflüssig. Man muss ihn mit Milch trinken.
Dann also Mexico City bei Tag. Immer hat er sich die Stadt bunt vorgestellt. Aber das sogenannte historische Zentrum ist grau. Es sieht kaum anders aus als irgendeine südspanische Großstadt, abgesehen davon, dass die Häuser alle schief stehen. Der feuchte Untergrund, liest er im Backpacker , habe schon den alten Azteken zu schaffen gemacht.
Außerdem liest er: Die Mexikaner nennen es nicht Mexico City, sondern DF – District Federal .
Außerdem liest er über die Mariachi -Kapellen, die auf der Plaza Garibaldi jedem, der will, ein Ständchen spielen. Der Platz, heißt es, sei sehr «touristisch». Die Preise seien entsprechend hoch.
Auf dem Zócalo wird gerade eine provisorische Halle gebaut, so groß, dass man befürchten muss, bald würde hier Holiday on Ice gastieren. Er besichtigt die Catedral Metropolitana , die der Backpacker als Meisterwerk des mexikanischen Barock preist, schlendert durch die bombastische Kirchenhalle, steht ratlos vor der obszönen Pracht eines zwanzig Meter hohen, über und über vergoldeten Altars.
Neben der Kathedrale: der Templo Mayor, der große Tempel der einstigen Aztekenstadt, besser gesagt: seine erbärmlichen Überreste. Zerstört, geplündert, dem Erdboden gleichgemacht, Zeugnis des Kampfes zweier Kulturen: der friedvollen christlichen und der blutrünstigen aztekischen, welche ein Hernán Cortés mit etwas über zweihundert Soldaten (und einer geschickten Bündnispolitik, ja, gewiss!) in wenigen Monaten plattmachte. Von den Ruinen des Tempels aus sieht man die Rückseite der Kathedrale – und man sieht, dass sie aus den Steinen des Tempels gebaut worden ist.
Am Rande des Platzes: ein Indio in pompösem Federschmuck. Vor ihm, in einem Kreidekreis, zwei Einheimische, die er, Sprüche murmelnd, mit Weihrauch benebelt. Zehn oder zwanzig Leute stehen an: Alte, Junge, Paare. Abgesehen von einem Lendenschurz ist der Mann nackt. Er ist nackt, klein und dick und hat blaue Lippen.
In einer Nebenstraße vier Kinder. Sie machen Musik. Das heißt, drei machen Musik: Einer bläst auf der Klarinette, zwei trommeln unbeholfen, und ein kleines Mädchen in etwas zu kurzen Hosen geht um und hält den Passanten den Hut hin. Das Mädchen ist nicht älter als fünf. Ihr Blick argwöhnisch, voller Scham. Alexander gibt ihr ein paar Pesos. Überlegt, ob er ihr das geben soll, was er glaubt, den Musikern von der Plaza Garibaldi schuldig zu sein. Tut es aber nicht. Befürchtet, er könnte sich blamieren – vor wem?
Er nimmt die Metro bis zur Insurgentes . Fliegende Händler steigen ein und aus. Schreien, verkaufen CDs mit schrecklicher Musik, die aus batteriebetriebenen Playern herausscheppert. Alexander ärgert sich, dass er den Kindern das Geld nicht gegeben hat.
Wieder über der Erde: die Avenida des los Insurgentes – Allee der Aufständischen. Eine Alltagsstraße, normaler, dreckiger als das Zentrum, aber auch nicht das, was er sich unter Mexico City vorgestellt hat. Menschen, donnernder Verkehr. Zwischen den Fahrspuren, auf einem kaum meterbreiten Mittelstreifen, fristen dürre Bäumchen eine unerklärliche Existenz. Die Häuser am Rande der Straße: unbeholfene Stilkopien, irgendwann einmal, man glaubt es noch zu erkennen, von stolzen Besitzern errichtet, inzwischen verwahrlost, verwittert, mit schon wieder sich lösender Farbe übertüncht, mit Plakaten beklebt. Über den Dächern Gerüste, gigantische Leinwände aufspannend, auf denen für 99-Pesos-Artikel geworben wird.
Er geht die Insurgentes südwärts. Die Adresse liegt außerhalb dessen, was der Kartenausschnitt im Backpacker abdeckt. Auf dem großen Stadtplan im Hotel hat er sich den Weg angesehen. Er geht nicht langsam, nicht schnell. Er geht vorbei an Kneipen und Läden, die nach der Mittagspause gerade wieder öffnen. Vorbei an Drogerien und Fotoläden. Vorbei an Abwasserpfützen und
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