Ruge Eugen
Centro historico , 35 Dollar die Nacht. An der Rezeption ein Milchgesicht im blauen Anzug, erklärt ihm etwas, das er nicht versteht. El cinco piso , so viel versteht er: fünfter Stock. Das Zimmer ist groß, die Möbel sämtlich mit einer Spritzpistole auf Bordeaux umgespritzt, nicht mal geschmacklos. Alexander lässt sich aufs Bett fallen. Und jetzt?
Alexander geht auf die Straße. Mischt sich unter das Volk. Es ist acht Uhr abends. Die Straßen sind voll, er schwimmt mit der Menge, atmet den Atem der anderen. Kleine Polizisten, die trotz der Hitze schusssichere Westen tragen, pusten in ihre Trillerpfeifen. Als er über ein gullydeckelgroßes Loch im Gehweg stolpert, fällt er den Entgegenkommenden in die Arme. Sie lachen, richten ihn wieder auf, den großen, tollpatschigen Europäer. Dann ist er in einem Park. Überall werden Dinge feilgeboten. In riesigen Pfannen schmoren Fleisch und Gemüse friedlich nebeneinander. Es gibt Decken und Schmuck, es gibt alte Telefone, Kreissägen, Wecker, es gibt gepökelte Schweinehaut, es gibt Dinge, die er nicht kennt, es gibt eigentlich alles: Federschmuck, Skelett-Hampelmänner, Lampen, Kruzifixe, Stereoanlagen, Hüte.
Alexander kauft einen Hut. Er hat, weiß er, schon immer einen Hut kaufen wollen. Jetzt gibt es Argumente dafür. Jetzt könnte er sagen: In Mexiko braucht man einen Hut – wegen der Sonne. Aber er sagt es nicht. Er kauft den Hut, weil er sich mit Hut gefällt. Er kauft den Hut, um gegen die ihm anerzogenen Prinzipien zu verstoßen. Er kauft ihn, um gegen seinen Vater zu verstoßen. Er kauft ihn, um gegen sein ganzes Leben zu verstoßen, in dem er keinen Hut trug. Warum eigentlich? Dabei ist es so einfach! Ihm ist zum Lachen zumute. Er lacht sogar. Nein, natürlich lacht er nicht, aber er lächelt. Er lässt sich treiben. Jetzt erst gehört er wirklich dazu. Jetzt, mit dem Hut, ist er einer von ihnen. Jetzt kann er plötzlich Spanisch: Wie viel kostet … Ich möchte … Taco, Tortilla? … Gracias, Señor … Señor! Er verbeugt sich förmlich, wie es sich bei der Verleihung eines Ehrentitels gehört. Die alte Frau kichert. Sie hat nur noch einen Zahn. Alexander treibt weiter. Futtert Tortilla. Gehen, stehen, Verkehr. Wieder Schwärme winziger Polizisten, sinnlos pfeifend, könnte man meinen, aber jetzt, plötzlich, versteht er: Sie pfeifen – nichts weiter. Wie Vögel. Sie pfeifen, weil sie sind. Verblüffende Erkenntnis. Sie schlagen mit den Flügeln, flattern mit den Händen, undeutbar, irrelevant, während der Verkehr, irgendwelchen Naturgesetzen gehorchend, sich selbst reguliert.
Dann ist Musik zu hören. Keine Trillerpfeifen, richtige Musik. Undeutlich noch, hin und wieder springt eine Geige oder eine Trompete hervor: Geige und Trompete! Die typisch mexikanische Instrumentierung, wie auf der Schellackplatte von Oma Charlotte. Seine Erregung nimmt zu, er beschleunigt den Schritt. Jetzt klingt es, als stimmte ein riesenhaftes Orchester die Instrumente. Sänger scheinen sich einzusingen. Was geht da vor? Alexander steht auf einem hell erleuchteten Platz. Der Platz ist voller Menschen, darunter, er glaubt seinen Augen nicht zu trauen, in kleinen, an ihren jeweils einheitlichen Uniformen leicht erkennbaren Grüppchen, Hunderte Musikanten: Kapellen, große und kleine, zehnköpfige und zweiköpfige, mit wuchtigen Sombreros oder leichten Strohhüten, mit Leisten goldener Knöpfe oder silberner Borte geschmückt, mit Epauletten und Fransen, rosa, weiß oder marineblau, und sie alle machen Musik! Gleichzeitig! Unerklärlicher Vorgang. Wie das plötzliche Auftauchen rätselhafter Insekten. Eine Prozession? Ein Streik? Singen sie gegen den Weltuntergang an? Ist hier der einzige Platz, von dem aus irgendein Gott sie erhören kann?
Alexander geht umher, lauscht wie in Trance, wandert von Kapelle zu Kapelle, sucht mit den Ohren seine Musik: Dort hinten … Oder nein. Aber da … So ähnlich! Steht plötzlich vor einem der Sänger. Sein Anzug lichtblau, das Hemd strahlend weiß, die Haare pechschwarz, und um den Hals trägt er eine bombastische Fliege.
– México lindo, sagt Alexander.
Der Sänger sagt: Sí!
– Jorge Negrete, sagt Alexander.
Der Sänger sagt: Sí!
Die Musiker ziehen nochmal an ihren Zigaretten, stellen die Flaschen ab, ziehen sich die Hose hoch, rücken ihre Sombreros zurecht, und plötzlich läuft Omis uralte Schellackplatte: Rum-tata-rum-tata … Voz de la guitarra mia … al despertar la mañana …
Ungläubig starrt
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