Ruge Eugen
sie in irgendein Dorf kamen und sie vor der Kirche saß, gehasst hatte sie das, die beiden Großen durften sich Arbeit suchen im Dorf, und sie, die Kleinste, musste die Hand aufhalten, den ganzen Tag lang, Kopf runter, Hand hoch, aber wenn keine Schuhe in Sicht waren, konnte man die Hand auch mal runternehmen, das hatte sie rasch kapiert, Fußlappen brachten nix, Bastschuhe hin und wieder, aber sobald irgendwo Schuhe auftauchten, da hieß es Achtung, richtige, lederne Schuhe, so wie die, die sie trug, ottopädische hießen sie, so was kannten die gar nicht in Slawa, mit zwölf Löchern auf jeder Seite, eigentlich schade, dass sie nun doch nicht nach Slawa fuhr, Nina hatte sie eingeladen, sogar ein Visum war da, aber was soll man machen, wo sie nicht einmal mehr bis zur Kirche kam mit diesen Füßen, da halfen auch ihre Ottopädischen nix, waren einfach hinüber, die Füße, waren genug umhergegangen auf dieser Welt, bis Gríschkin Nagár, von Tartársk her, vier Jahre lang oder wie viel, nur gegangen, gegangen, jeden Sommer, von der Schneeschmelze an, bis in die Erntezeit, und dann gib Gott, dass der Kulak sich erbarm, und sei’s nur ein Plätzchen im Stall, wo man den Winter verbrachte.
Zum Rein-in-die-Schuhe musste sie die Schnürsenkel immer fast ganz ausfädeln, jetzt knöperte sie sich durch zwölf Löcher wieder hinauf, band eine Schleife, und noch einen Knoten über die Schleife, zur Sicherheit, dann war es geschafft. Sie bürstete sich die Haare, wobei sie nicht extra ins Bad ging, für ihre Zotteln genügte der Fernsehschirm, fand Nadjeshda Iwanowna, umso besser, wenn man sich nicht so genau sah, dann zog sie den Sommermantel über, draußen war es noch warm, nahm statt der Handtasche, die sie bei solchen Gelegenheiten mit sich herumtrug – warum eigentlich, den Schlüssel hatte sie sowieso an einer Kette um den Hals, und ihr Portemonnaie versteckte sie in einer extra eingenähten Rocktasche –, nahm also statt der Handtasche das Glas Gurken, das seit heute morgen auf ihrem Tisch stand, setzte sich wieder aufs Bett und wartete, bis Kurt sie abholte. Es machte ihr nichts aus zu warten, wenn man wusste, worauf man wartet, im Gegenteil, dann wartete sie sogar gern. Ihr fiel ein, dass sie noch nichts gegessen hatte, das Käsebrot, das Ira ihr hingeknallt hatte, lag noch immer unangebissen auf dem Tisch, aber sie beschloss, es nicht anzurühren, sie war ja kein Hund, schließlich, also blieb sie sitzen, das Glas Gurken im Schoß, und wartete, dachte an nichts, jedenfalls an nichts Bestimmtes, nur dass es seltsam war, an was sie heut dachte, das dachte sie, wie sie als Kind vor der Kirche saß und nach Schuhen schaute, lange hatte sie nicht mehr daran gedacht, aber wo das gewesen war, keine Ahnung, das Dorf, die Gesichter, nichts mehr von alldem, vergessen, wie den Anfang des Buches, das Krieg und Frieden hieß, nur an den Tag, wo sie Ljuba fanden, daran erinnerte sie sich natürlich, wie sie im Schnee lag, dass man glauben konnte, es sei ein gefrorener Lumpen. Dass sie einen der Männer mit einer Axt bedroht hatte, so hieß es. Und dann mussten sie ziehen, die «Unruhestifter», mitten im Winter, immerhin gab ihnen der Kulak noch ein viertel Pud Brot, das wusste sie noch, und wie die Leute hinter den Fenstern standen und schauten, und dann – wusste sie nicht mehr. Keine Ahnung. Irgendwie kamen sie durch. Irgendwo kamen sie unter. Irgendwann – war es in diesem Sommer, war es im nächsten? – erreichten sie Gríschkin Nagár, noch zu dritt: Mutter Marfa, Vera, Nadjeshda.
An Vera erinnerte sie sich noch gut. Ljubow war die Schönste gewesen, hatte Mutter Marfa immer gesagt, aber Vera die Sanfteste, und so hatte Nadjeshda Iwanowna sie auch in Erinnerung, gottesfürchtig und still, und noch heute fragte sie sich, wieso ausgerechnet Vera so ein grausames Ende gefunden hatte. Einen einzigen Winter hatte sie in Gríschkin Nagár noch erlebt. Das erste Mal, dass sie ein eigenes Zuhause gehabt hatten, der Vetter hatte ihnen die Kate überlassen, schön die Ritzen mit Moos ausgestopft, der Ofen reichte zum Schlafen gerade für drei, abends brannte der Kienspan, es roch nach Harz, während man zusammen am Tisch saß und vor sich hin werkelte. Der Samowar summte. Draußen heulte der Wind, oder, wenn es ganz still war, dann heulten die Wölfe, weit entfernt, so schien es, aber wenn der Winter lange genug gedauert hatte, dann kamen sie, schlichen zwischen den Häusern von Gríschkin Nagár umher, und wenn man am
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