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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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Morgen die Tür aufmachte, fand man im Schnee ihre Spuren. Im Sommer waren sie feige, da wurde man eher von den Mücken gefressen als von den Wölfen, halb tot musste man sein, ehe sie einen anfielen, sagten die Männer, wahrscheinlich war sie schon halb verrückt gewesen vor Durst, wer weiß, wie lange sie schon herumgeirrt war, wer sich verlief, lief im Kreis, so hieß es, gefunden hatte man sie in einer Entfernung von zwölf oder fünfzehn Werst, zwei Jahre später, den Zinkeimer brachte man, mit dem sie zum Beerensammeln gegangen war, und in dem Eimer, frag lieber nicht, noch heute bekam sie Gänsehaut, wenn sie dran dachte, was von ihr übrig geblieben war, Hörnlein und Hufen, nun weißt du, warum, zweimal drehst du dich, zweimal streckst du dich nach den Beeren, schon hast du die Richtung verloren, groß ist die Taiga, und schnell verliert man die Richtung, und dann merk es dir wohl, was übrig geblieben ist von dem Zicklein, nur Hörnlein und Hufen, vergeblich gerufen, nur Hörnlein … Egal, wird’s vergessen haben, der Junge, wozu auch, in Deutschland gab’s keine Wölfe, alles geordnet in Deutschland, sogar der Wald, und wer weiß, ob es in Amerika überhaupt Wald gab.
    Jetzt klopfte Kurt.
    – Ich schenk ihm ein Glas Gurken, sagte Nadjeshda Iwanowna. Oder ist das nicht gut genug?
    – Das ist sehr gut, Nadjeshda Iwanowna, schenken Sie ihm ein Glas Gurken.
    Ein guter Mann, Kurt, immer höflich, immer mit Vor- und Vatersnamen, Ira konnte von Glück reden, dass sie so einen gefunden hatte, dachte Nadjeshda Iwanowna, während sie sich aufrappelte, zwar gesessen hatte er auch im Lager, ein Ehemaliger war er, aber das hatte sie schon in Slawa gemerkt, dass die Ehemaligen anständig waren, anständiger als die Lagerverwaltung mitunter, das versoffene Pack, aber dass er’s mal so weit bringen würde, Professer war er, fuhr nach Berlin jeden Montag, mit einer Aktentasche, machte da irgendwas, sie wusste es nicht genau, aber von Staats wegen irgendwas, und Geld verdiente er, hatte Ira ein Auto gekauft, das glaubte ihr keiner in Slawa: Die Frau fuhr Auto, und der Mann ging zu Fuß, allerdings, wo war denn Ira?
    – Wo ist denn Ira, fragte Nadjeshda Iwanowna.
    Kurt schüttelte den Kopf.
    – Kommt nicht mit, sagte er.
    – Wie denn, kommt nicht mit? Zu Wilhelms Geburtstag?
    Kurt zeigte mit dem Finger nach oben. Jetzt hörte Nadjeshda Iwanowna die Musik, die aus Iras Zimmer kam, die Musik kannte sie, Ira hörte sie in letzter Zeit öfter, es war russische Musik, ein russischer Sänger, der um sein Leben brüllte, aber nicht die Musik war es, was Nadjeshda Iwanowna beunruhigte.
    – Geht’s ihr nicht gut, fragte Nadjeshda Iwanowna.
    – Geht ihr nicht gut, sagte Kurt.
    – Wegen Sascha, fragte Nadjeshda Iwanowna.
    – Wegen Sascha, sagte Kurt.
    War trotzdem kein Grund zum Trinken, fand Nadjeshda Iwanowna. Gehörte sich einfach nicht für eine Frau, wo gab es denn so was, die Frau trinkt, und der Mann ist nüchtern, man schämte sich wirklich, rauchen rauchte sie auch, das war alles nicht richtig, sich betrinken zu Wilhelms Geburtstag, als ob Sascha zurückkäme, wenn sie sich da oben betrank.
    – Haken Sie sich bei mir unter, Nadjeshda Iwanowna, sonst stürzen Sie noch.
    Sie hakte sich bei Kurt unter, stieg Stufe für Stufe die Treppe vorm Haus hinab. Das Unkraut zwischen den Gehwegplatten hätte man jäten müssen, dachte sie, während sie zum Gartentor schritten, aber das war nicht ihre Sache.
    – Hauptsache, es geht ihm gut dort, sagte Nadjeshda Iwanowna.
    – Ja, sagte Kurt, das ist die Hauptsache.
    Charlotte und Wilhelm wohnten in derselben Straße, nicht sehr weit, aber doch auch nicht nah für kaputte Füße. Zum Glück waren die Bürgersteige in Deutschland gepflastert. Kurt hatte das Gurkenglas an sich genommen, sie gingen eingehakt, kleine Schritte. Vielleicht war er einfach nicht streng genug mit Irina, dachte Nadjeshda Iwanowna. Von ihr ließ sie sich ja überhaupt nichts mehr sagen, alles wusste sie besser, ob’s um die Gurken ging oder um den Teig für Pelmeni, da gehörten nun mal keine Eier rein, oder versuch mal, ihr zu sagen, sie soll weniger trinken, ein Donnerwetter gab’s da, was mischst du dich in mein Leben ein, wir sind hier nicht hinterm Ural, dabei, entschuldige, waren sie ja hinterm Ural, weit hinterm Ural, da kannst du nur Tür zu und Ruhe. Wahrscheinlich kam’s daher, weil sie keinen Vater gehabt hatte, Großmutter Marfa hatte sie natürlich verwöhnt, zuerst hieß es: Schande,

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