Ruge Eugen
Glas in die Höhe.
– Nu, satschjem, sagte Nadjeshda Iwanowna.
Eigentlich wollte sie nicht, aber auf einmal prosteten ihr alle zu, forderten sie auf zu trinken, egal, dachte Nadjeshda Iwanowna, einen konnte sie sich genehmigen, auf Wilhelms Geburtstag, sie kippte den Schnaps runter, aber in dem Augenblick, wo sie ihn runterkippte, fiel ihr ein, dass man so etwas in Deutschland nicht tat, in Deutschland nippte man ja immer bloß an den Gläsern, es war ihr ein bisschen unangenehm, sich so vertan zu haben, zudem schmeckte das Zeug widerlich, sie war es nicht mehr gewohnt zu trinken, sie spürte, wie der Alkohol ihr in den Kopf hinaufstieg, und nach einer Weile kam es ihr vor, als würden die Leute noch mehr und noch schneller reden, die schnarrenden Deutschlaute schnarrten in ihren Ohren, fast wurde ihr ein bisschen schwindelig von so viel Mitteilungsdrang, so viel konnte doch gar nicht passiert sein seit letztem Jahr, dachte Nadjeshda Iwanowna, die einzige Neuigkeit, die ihr einfiel, war, dass Sascha in Amerika war.
– Sascha w Amerike, sagte sie zu dem Mann mit den traurigen Augen.
– Nadjeshda Iwanowna, sagte der Mann.
Er griff zur Schnapsflasche, um ihr noch einmal einen einzugießen, aber Nadjeshda Iwanowna wehrte entschieden ab. Sie war schon von einem Glas so betrunken, dass sie zwischen all den schnarrenden Deutschlauten sogar russische Worte zu hören begann, genauer gesagt, ein Wort oder, noch genauer, einen Namen: Gorbatschow hieß er, irgendwie kannte sie den aus dem Fernsehen, oder bildete sie sich’s bloß ein, mit dem Mal auf der Stirn, so einen gab es doch, aber wieso sie ihn immer im amerikanischen Fernsehen zeigten, war ihr unklar, war doch einer von den Unseren – oder?
Jetzt kam Melitta, Saschas Ehemalige. Nadjeshda Iwanowna erkannte sie sofort, obwohl sie sich herausgeputzt hatte wie eine Bojarin. Seit sie sich von Sascha hatte scheiden lassen, war Nadjeshda Iwanowna ihr weniger freundlich gesinnt, das musste sie zugeben, ein Unglück war’s, wie er damals abgenommen hatte, der Junge, und Markus, ihr Urenkel, kam auch nur noch selten, seitdem. Als er klein war, da hatte er bei ihr auf dem Schoß gesessen, wie Sascha damals, und sie hatte ihm das Lied vom Zicklein gesungen, allerdings, verstehen verstand er ja nix, verstand ja kein Russisch, der Markus, brachten sie ihm ja nicht bei. Eine Zeitlang war er noch hin und wieder zu ihr ins Zimmer gekommen, um sich eine Praline zu holen, aber so was durfte sie ihm ja nicht geben, da war ja Melitta davor, als ob’s Gift wäre, und dann kam er gar nicht mehr, sie konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wann sie Markus das letzte Mal gesehen hatte, groß war er geworden, aber dürr wie ein Besenstiel, und blass wie Jesus am Kreuz, kein Wunder – wenn er nie etwas Süßes bekam.
Sie sah, wie Markus seinem Urgroßvater ein Geschenk überreichte, sie erzählten sich irgendwas, dann begann der Junge die Leute am Tisch zu begrüßen, und während er Stück um Stück näher kam, nahm Nadjeshda Iwanowna ihre Sprachkenntnisse zusammen, um ihren Urenkel wenigstens auf Deutsch begrüßen zu können, zur Sicherheit sprach sie das Wort noch ein paarmal vor sich hin, bis er endlich heran war, er reichte ihr brav seine Hand, sie war zart und zerbrechlich, der Händedruck schwach, aber ein feines Gesicht hatte er, seine Stirn war hoch, und seine dunklen Locken erinnerten Nadjeshda Iwanowna eindeutig an Sascha.
– Affidersin, sagte Nadjeshda Iwanowna.
Ihr Urenkel schaute sie erstaunt an, dann schaute er zu seiner Mutter und lachte.
– Auf Wiedersehen, sagte Markus.
Und schon war er weg. Wand vorsichtig, aber bestimmt seine zarte Hand aus der ihren und verschwand.
Nadjeshda Iwanowna betrachtete ihre Hand, es kam ihr auf einmal vor, als hätte sie ihm wehgetan mit dieser groben, abgenutzten Kartoffelhand, mit dieser Sägewerkshand, sie betrachtete die furchterregenden Adern, die auf dem Handrücken hervortraten, die schrumplige Haut an den Knöcheln, die von kleinen und großen Verletzungen aufgeworfenen Nägel, die Narben und Poren und Falten und die von Hunderten Linien durchfurchte Handfläche. Irgendwie verstand sie sogar, dass er nicht angefasst werden wollte von so was.
Dann verstummten die schnarrenden Deutschlaute. Nadjeshda Iwanowna schaute auf, ein Mann mit einer roten Mappe erschien, das war, sie wusste es gleich, der Ordensverleiher, Wilhelm bekam ja fast jedes Jahr einen Orden, von Staats wegen, und ein Papier gab’s dazu, wo draufstand,
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