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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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wofür er den Orden bekam. Das las der Mann jetzt vor, aus der roten Mappe, die er aufgeklappt in der Hand hielt, Nadjeshda Iwanowna lauschte ehrfurchtsvoll, auch wenn sie es im Einzelnen nicht verstand, so viel verstand sie: dass es hier um wichtige Dinge ging, sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück, ihr Blick wanderte zum großen Fenster, während der Redner Wilhelms Leben erzählte, es dämmerte schon, nur in den Wipfeln der Bäume war noch Licht, die Blätter in den Baumkronen umtänzelten einander lautlos, und Nadjeshda Iwanowna glaubte den Abendhauch zu spüren, die Kühle im Gesicht, wenn man sich, nachdem man noch die Glut zusammengeharkt hatte, abwandte und über den plötzlich schon dunkel gewordenen Kartoffelacker zum Haus stapfte … Bald, wenn die Ernte vorbei war, hatte Nina Geburtstag, Mitte Oktober, manchmal gab es schon Schnee, aber es war noch nicht kalt, und die Stimmung war gut, alle hatten sie ihre Kartoffeln gehortet, die richtige Zeit, um zu feiern, tags zuvor hatten sie zusammen Pelmeni gemacht, und dann wurde gesungen, getanzt, und dann wurde wieder gesungen, wenn alle ein Gläschen getrunken hatten, die traurigen Lieder, dann weinten alle und fielen sich um den Hals, nun ja, und dann wurde wieder getanzt, so war das in Slawa, dachte Nadjeshda Iwanowna und hätte beinahe vergessen zu klatschen, als die Rede zu Ende war und der Ordensverleiher Wilhelm den Orden ansteckte.
    Dann schnarrten wieder Deutschlaute, schnarrten und schnatterten an ihren Ohren vorbei, jetzt störte es sie nicht mehr, der Schnaps hatte sich gesetzt, es war ihr warm im Leib und leicht in der Seele, und in Gedanken war sie in Slawa, in Gedanken ging sie die Bolschaja Lesnaja entlang und sah alles ganz deutlich: das Erzrot der schnurgeraden Schotterstraße, das, wenn man die Straße entlangschaute, weit in der Ferne im lichten Gelb eines Birkenhains endete; die Straßengräben, in denen Schweine sich suhlten; die Ziehbrunnen und die hölzernen Trottoire; die mannshohen Bretterzäune, hinter denen sich einstöckige Holzhäuser verbargen, und eines von diesen Häusern war einmal ihres gewesen. Ja, vor sehr langer Zeit, fiel ihr ein, als ihre Hand noch jung und zart gewesen war, so jung und zart wie die ihres Urenkels Markus, da hatte eine Wahrsagerin aus dieser zarten, kaum lesbaren Hand ihre Zukunft gelesen und ihr Wohlstand und Glück prophezeit – und so war es ja auch gekommen. Ein eigenes Haus hatte sie gehabt, eine eigene Wirtschaft, am Ende sogar eine Kuh, eine braun-weiß gescheckte, und sie hatte sie Marfa genannt, zu Ehren der Mutter, die es nicht mehr erlebt hatte.
    Ja. Es war alles ganz einfach. Sie würde nach Slawa fahren, zu Ninas Geburtstag, das Visum hatte sie ja. Sie würde mit Nina in der Küche sitzen und Dickmilch löffeln. Sie würden zusammen Pelmeni machen, dann würden sie feiern, wer da noch übrig war. Und dann würde sie sterben, ganz einfach. Dort in der Heimat würde sie sterben, dort wollte sie begraben sein, wie denn anders, ein Glück, dachte sie, während die Deutschlaute in ihren Ohren schnarrten, ein Glück, dass ihr das jetzt noch eingefallen war, hier auf der Geburtstagsfeier von Wilhelm, aber sagen sagte sie’s keinem, so dumm war sie nicht, und das Geld, das sie im Kopfkissen aufbewahrte, das tauschte sie bei der Bank gegen Rubel.
    – Nu dawai, sagte sie zu dem Mann mit den traurigen Augen und schob ihren kleinen grünen Metallbecher hin.
    Der Mann mit den traurigen Augen goss Nadjeshda Iwanowna ein und lachte.
    – Nadjeshda Iwanowna, sagte der Mann.
    – Da sdrawstwujet, rief der Feuchthändige.
    – Bogh s toboju, sagte Nadjeshda Iwanowna und kippte den Schnaps in einem Zug runter.

1966
    Vor zehn Jahren, auf den Monat genau, waren sie aus Russland gekommen. Derselbe milchweiße Himmel hatte über den Feldern gehangen, hier und da sprossen, wenn man genau hinsah, bereits die Knospen, aber aus der Ferne war die Landschaft ebenso farblos gewesen wie heute, die Ortschaften ebenso menschenleer, und Kurt erinnerte sich, wie er aus dem Fenster des Kleinbusses auf das da draußen gestarrt hatte: angeblich seine Heimat.
    Sie hatten sich Goldzähne machen lassen von ihrem letzten Geld, einen Schneidezahn jeweils, um anständig auszusehen in Deutschland. Ihre guten Sachen hatten sie in einem extra Köfferchen verstaut, um sie nach der tagelangen Zugfahrt erst kurz vor der Ankunft anzuziehen, aber schon als Kurt ausstieg und Charlotte und Wilhelm auf dem Bahnsteig stehen sah, kam er sich

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