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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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Krichatzki, das kleine, zerfledderte Lateinlehrbuch, das er zehn Jahre lang mit durchs Lager geschleppt hatte, bei seinen eigenen Werken eingeordnet hatte, war Kurt plötzlich unklar. Er nahm das Buch heraus, wusste aber nicht recht, wohin damit (kein Nachschlagewerk, keiner Periode zuzuordnen) – und stellte es wieder zurück.
    Dann holte er die Vorträge und Zeitschriften seiner Moskauer Kollegen heraus, die Zettel mit Telefonnummern und Adressen, der übliche Kram, den man von so einer Reise mitbrachte, das meiste war Mist, selbstverständlich, die meisten Telefonnummern würde er, nachdem er sie sorgfältig in sein Telefonbuch übertragen hatte, nie anrufen; die meisten Vortragsmanuskripte würden eine Weile in seinem Zimmer herumliegen, bis er sie, nach Wahrung einer Anstandsfrist, wegwarf. Kurt legte die Kopien, die er sich im Archiv hatte machen lassen, beiseite – und haute den Rest in den Papierkorb. Holte die Zettel mit Adressen und Telefonnummern wieder heraus, begann sie zu sortieren. Hielt auf einmal eine namenlose Nummer in der Hand, brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, zu wem die Nummer gehörte … und war einen Augenblick versucht, sie aufzuheben, als Rache für Gojkovic – aber dann musste er an den gestrigen Abend denken, an den goldenen Spiegel, an seine wundersame Verdopplung und an das Versprechen, das Irina ihm ins Ohr gehaucht und das sich sofort mit einem Bild verbunden hatte, das jetzt wieder vor seinen Augen aufstieg – gerade in dem Moment, als es draußen klingelte.
    Rasch steckte er den Zettel in die Bademanteltasche und marschierte zur Haustür, noch immer das Bild vor Augen, es war ein Bild aus dem vergangenen Sommer, Urlaub am Schwarzen Meer, wo sie zusammen mit Vera gewesen waren, zufällig übrigens, denn sie hatten Vera überraschend im Transitraum getroffen, Kurt hatte sie nur flüchtig gekannt, eine ehemalige Kollegin Irinas aus deren Zeit im Archiv der Neuendorfer Akademie, die, wie sich herausgestellt hatte, zu ihrer Reisegruppe gehörte und die, da sie, wie sich ebenfalls herausstellte, neuerdings geschieden war, allein nach Nessebar flog, und von dort – vom Strand in Nessebar – stammte auch das Bild, das Kurt, wie flüchtig auch immer, bei den zehn oder zwölf oder vierzehn Schritten vom Schreibtisch bis zur Haustür durch den Kopf ging. Alle drei waren nämlich das erste Mal an einem südlichen Meer gewesen, und alle drei waren beim Betreten des Strandes überrascht gewesen, wie heiß der Sand in Nessebar war, Kurt hatte unwillkürlich begonnen, von einem Fuß auf den anderen zu hüpfen, und dasselbe taten die Frauen, plötzlich hüpften sie alle drei, ein alberner kleiner Tanz, den sie aufführten, und was bei diesem Tanz mittanzte, waren Veras auf wundersame Weise oder vielleicht einfach durch einen sich lösenden Bademantelgürtel zum Vorschein kommende Dinger , dachte Kurt, denn er wusste kein anderes Wort dafür, es waren wirklich Dinger , schwere weiße, von winzigen blauen Äderchen durchzogene Dinger , die noch vor Kurts Nase tanzten, als er die Haustür öffnete und in ein rundes, schief lächelndes Gesicht blickte, das er einige Sekundenbruchteile später als das Gesicht seines Parteisekretärs Günther Habesatt identifizierte.
    – Nanu, sagte Kurt.
    – Entschuldige, sagte Günther und trat von einem Bein auf das andere, als müsste er dringend pinkeln.
    Aber Günther musste nicht pinkeln. Eine Weile stand er, noch immer von einem Bein aufs andere tretend, in der Mitte von Kurts Zimmer herum, äußerte sich bewundernd über das Haus und das Zimmer und die schwedische Importbücherwand, lehnte Kaffee ab, bat aber um ein Glas Wasser und ließ sich dann in einem der schon etwas abgeschabten Schalensessel nieder, die aus Charlottes Haus stammten und in dem sich Günthers beträchtliche Körpermasse verteilte wie in einer Badewanne. Insgeheim verachtete Kurt dicke Menschen. Günther war im Großen und Ganzen ein netter Kerl, hilfsbereit, kein Intrigant, aber doch ein eher schwacher, ein anfälliger Mensch, das jedenfalls glaubte Kurt aus der Tatsache schließen zu können, dass Günther sich, wenngleich widerstrebend (oder jedenfalls den Anschein des Widerstrebens erweckend), hatte verpflichten lassen, Parteisekretär zu werden. Auch Kurt hatte man angesprochen, aber er hatte – selbstverständlich – abgelehnt.
    Nachdem er das Glas Wasser – scheinbar ganz ohne zu schlucken – in seinem großen Körper hatte verschwinden lassen, schaute Günther

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