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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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angewiesen waren, die Westsektoren nicht zu betreten, hatte es Sonderzüge gegeben, die zwischen Friedrichstraße und Griebnitzsee nicht hielten. Nun gab es den «Sputnik», der Westberlin weiträumig umkreiste. Um ihn zu erreichen, musste Kurt zuerst mit dem Zubringerbus zum Bahnhof Drewitz und von dort aus eine Station bis Bergholz, das auf dem Sputnik-Ring lag. Mit dem Sputnik kam er, wenn es gutging, bis Ostbahnhof, und schließlich fuhr er noch fünfzehn Minuten mit der S-Bahn bis Friedrichstraße. Zum Glück musste er diese Tour nur an wenigen Tagen auf sich nehmen, denn zu den erfreulichen Seiten des notorischen Mangels in der DDR gehörte, dass es auch an Büroräumen mangelte, weshalb die Mitarbeiter des Instituts für Geschichtswissenschaft angehalten waren, ihre, wie es hieß, häuslichen Arbeitsplätze zu nutzen. Die Besprechungen seiner Arbeitsgruppe legte Kurt für gewöhnlich auf den sowieso obligatorischen Montag. Im Übrigen drückte er sich, wo es nur ging, ließ sich, da er als Neuendorfer den weitesten Weg hatte, von zweitrangigen Veranstaltungen beurlauben, schwänzte sogar, entschuldigte sich mit schwer überprüfbaren Busverspätungen oder schob seine angegriffene Gesundheit vor: die Magenprobleme, die er, ohne es direkt auszusprechen, als eine Folge der Lagerhaft darzustellen verstand, was ihm bei seinen Vorgesetzten, auch wenn sie von seinen Lagererfahrungen mehr ahnten als wussten, verschämtes Verständnis einbrachte – und zwar ohne dass er bei alldem ein schlechtes Gewissen gehabt hätte. Im Gegenteil, er betrachtete jede vermiedene Sitzung als gewonnene Arbeitszeit. Was für Kurt zählte, waren geschriebene Seiten, und in dieser Hinsicht – was die Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen betraf – hielt er den unangefochtenen Rekord.
    Von der Friedrichstraße aus waren es nur noch fünf Minuten zu Fuß. Das Institut lag schräg gegenüber der Universität in der Clara-Zetkin-Straße, eine ehemalige Mädchenschule, gebaut in der Gründerzeit, Sandsteinfassade, vom Kohlenruß mit den Jahren geschwärzt und noch immer, auch zwanzig Jahre danach, gezeichnet von Einschusslöchern aus den letzten Kriegstagen. Am Pförtner vorbei führte eine pompöse Freitreppe ins Hochparterre, wo sich die Leitung des Instituts breitgemacht hatte. Kurts Abteilung lag im obersten Stock. Der bescheidene Versammlungsraum war schon stark gefüllt, als Kurt ankam, man musste noch Stühle aus dem Sekretariat holen; allerdings klumpten die zusätzlich hereingebrachten Stühle im hinteren Teil des Raumes zusammen, während es vorn, wo gerade das kleine Präsidium Platz nahm, zunehmend dünner wurde.
    Das Präsidium bestand aus Günther Habesatt, dem Institutsdirektor und einem Gast aus der Abteilung Wissenschaft des Zentralkomitees der SED, welchen Günther als den Genossen Ernst vorstellte. Der Mann war ungefähr in Kurts Alter. Er war nicht sehr groß, eindeutig kleiner als Günther und der Direktor, hatte graue, kurzgeschorene Haare und ein Gesicht, das ständig zu lächeln schien.
    Nachdem Günther – steif und ganz ohne Augenverdrehen – die Versammlung eröffnet und den einzigen Tagesordnungspunkt verlesen hatte, übernahm der Genosse Ernst das Wort und begann, flankiert von Günthers Beerdigungsgesicht und dem pointierten Nicken des Institutsdirektors, über die komplizierter werdende internationale Lage und den sich verschärfenden Klassenkampf zu berichten. Anders als Günther sprach der Genosse Ernst flüssig, beinahe eloquent, mit dünner, aber durchdringender Stimme, die sich, wenn er etwas hervorheben wollte, einschmeichelnd senkte – und die Art, wie er redete, kam Kurt auf einmal bekannt vor, oder war es die seltsame Angewohnheit, sein Notizbuch umzublättern, ohne hineinzuschauen, während er von den revisionistischen und opportunistischen Kräften sprach, innerhalb deren, so der Genosse Ernst, der Hauptfeind zu suchen sei, und bei dem Wort Hauptfeind senkte sich seine Stimme, und Kurt entdeckte Paul Rohde, der offenbar schon die ganze Zeit in unmittelbarer Nähe des Präsidiumstisches gesessen hatte, grau, geschrumpft, den Blick ins Leere gerichtet, erledigt, dachte Kurt. Paul Rohde war erledigt, Parteiausschluss, fristlose Entlassung, plötzlich war es ihm klar. Hier ging es schon gar nicht mehr um Paul Rohde. Hier ging es längst nicht mehr um irgendeinen verdammten Brief. Hier geschah das, was Kurt seit langem, genauer gesagt, seit der Ablösung Chruschtschows (aber eigentlich auch schon

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