Ruge Eugen
Gartenarbeit duschte man nun mal –, ging ihm die Szene durch den Sinn. Er ärgerte sich, eigentlich über sich selbst, versuchte aber umso mehr, seinen Wutanfall zu rechtfertigen. Gewiss bestand keine akute Gefahr, dass Sascha «Gammler» wurde. Aber seine lasche Haltung, seine Faulheit, sein Desinteresse für alles, was er, Kurt, für wichtig und nützlich hielt … Wie konnte man dem Jungen nur begreiflich machen, worauf es ankam? Der Junge war intelligent, keine Frage, aber irgendwas fehlte ihm, dachte Kurt. Irgendetwas dadrinnen.
Der Krichatzki kam ihm in den Sinn, schon zum zweiten Mal heute: das Lateinbüchlein, das er durchs Lager geschleppt hatte, und einen Augenblick dachte er darüber nach, inwieweit die Sache pädagogisch verwertbar sei: dass er sich sogar im Arbeitslager auf das Latinum vorbereitet hatte – etwas in dieser Art ging Kurt durch den Kopf, aber das war, musste er sich eingestehen, Unsinn. Er hatte sich im Lager nicht aufs Latinum vorbereitet. Er hatte gehungert. Und der Hunger hatte ihn dermaßen blöd gemacht, dass er sich manchmal gefragt hatte, ob der Schaden noch reparabel war. Viel hat jedenfalls nicht gefehlt, dachte Kurt und erinnerte sich, während er seine Beine mit der Körperbürste zu bearbeiten begann, dunkel an merkwürdige, halb wahnsinnige Zustände, die ihn heimgesucht hatten, erinnerte sich an die Stimme, die nach und nach das Kommando übernommen hatte, unbeteiligt, gleichgültig und immer – seltsam – in der dritten Person: Jetzt friert er … Jetzt tut es ihm weh … Jetzt muss er aufstehen …
Stopp. Falsches Programm. Das Bürsten nach dem Kaltduschen gehörte zum Morgenritual, in das er versehentlich hineingerutscht war. Kurt legte die Bürste weg, betrachtete sich im Spiegel. Manchmal fiel es ihm schwer zu glauben, dass es ihn tatsächlich noch gab. Und dann kam ihm die Vergangenheit vor wie ein Loch, in das er, wenn er nicht aufpasste, wieder hineinfallen konnte. Irgendwann einmal, dachte er sich, würde er das alles aufschreiben. Wenn die Zeit reif dafür war.
Er zog sich an und machte sich ans Aufwärmen des Mittagessens. Es gab Rindsgulasch mit Rotkohl. Sascha kam – ohne Gammlerkreuz. Setzte sich an den Tisch, krumm, sein Blick bohrte sich in den Teller. Er stocherte mit der Gabel im Rotkraut herum, schob die Blättchen einzeln in den Mund. Noch immer, auch mit zwölf Jahren, hatte er die Angewohnheit, alles getrennt zu essen: Fleisch und Beilagen. Aber Kurt entschied, über das alles hinwegzusehen. Stattdessen versuchte er es noch einmal «vernünftig»:
– Ich habe dir immer erlaubt, sagte Kurt, deine Musik zu hören – oder nicht?
Sascha stocherte im Rotkohl.
– Oder nicht, wiederholte Kurt.
– Ja, sagte Sascha.
– Aber wenn deine Begeisterung für diese Beatmusik dazu führt, dass du Gammler werden willst, dann muss ich dir sagen, dass deine Lehrer recht haben, wenn sie so was verbieten. Trägst du das Ding etwa auch in der Schule?
Sascha stocherte im Rotkohl.
– Ich frage dich: Trägst du das Kreuz auch in der Schule?
– Ja, sagte Sascha.
Kurt merkte, wie der Ärger erneut in ihm aufstieg.
– Bist du denn wirklich so dämlich?
Kurt kaute zweiunddreißig Mal, wie der Internist es ihm geraten hatte, legte dann das Besteck aus der Hand und betrachtete seinen Sohn, der noch immer im Rotkohl stocherte. Betrachtete die schmalen Handgelenke (genauer: das rechte Handgelenk; das linke war unter der Tischplatte verschwunden), die großen, gebogenen Wimpern, die er von Irina geerbt hatte (und über die Sascha sich, weil sie angeblich mädchenhaft aussahen, ärgerte), die schwer dressierbaren Locken, die von ihm, von Kurt, stammten (und derentwegen es in der Schule immer wieder Ärger gab, weil ein hundertprozentig linientreuer Direktor bei jedem Millimeter, der an den Ohren überstand, den Einfluss einer westlich-dekadenten Jugendkultur witterte). Und plötzlich empfand er ein unbändiges, fast schmerzliches Bedürfnis, diesen Menschen vor all dem Ungewissen, das noch auf ihn zukam, zu beschützen.
In der Nacht rumorte sein Magen. Am Morgen verordnete Irina ihm eine Rollkur. Am Vormittag versuchte Kurt mit einem Heizkissen unter dem Pullover, noch ein wenig an seinem neuen Buch über Hindenburg zu arbeiten. Dann machte er sich, nur mit einer Hühnerbrühe im Bauch, auf den Weg.
Die Fahrt ins Institut war – seit dem Mauerbau – lang geworden. Früher waren die S-Bahnen direkt durch Westberlin gefahren, und für diejenigen, die
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