Ruge Eugen
vor der Ablösung Chruschtschows) befürchtet hatte, Anzeichen hatte es schließlich genug gegeben, nur dass diese Anzeichen keine Anzeichen gewesen waren, begriff Kurt jetzt, sondern die Sache selbst: Das letzte Plenum, auf dem man kritische Schriftsteller niedergemacht hatte, die Absetzung des Kulturministers, der Bruch mit Havemann, das war es, es war da , es war im Institut, in Gestalt dieses Mannes mit dem Gesicht, das ständig zu lächeln schien, mit der sich einschmeichelnd senkenden Stimme, mit dem Notizbuch, in dem er blätterte, ohne hineinzuschauen, während er die Versammlung aufklärte über die Rolle der Geschichtswissenschaft in den Kämpfen unserer Zeit und über den Zusammenhang von Parteilichkeit und historischer Wahrheit .
Es war still geworden im Raum, eine Stille, die sich auch nicht in Hüsteln und Rascheln auflöste, als der Redner zum Ende kam. Nun war Rohde dran: Selbstkritik. Kurt hörte Rohde seinen auswendig gelernten Text stoßweise herauspressen, jedes Wort vorher abgesprochen, ganz klar, Kurt hörte ihn schlucken, die Pausen dehnten sich unerträglich, bis sich Worte wie feindlich … verantwortungslos … gehandelt … langsam zu satzartigen Gebilden fügten.
Dann bat Günther um Stellungnahmen. Der Abteilungsleiter meldete sich «spontan» zu Wort, verurteilte den Kollegen Rohde, welcher ihn schwer enttäuscht habe, und entschuldigte sich dann, unter dem beifälligen Nicken des Genossen Ernst, für seine mangelnde Wachsamkeit .
Dann war Kurt dran, das war die Reihenfolge. Kurt spürte, wie sich die Aufmerksamkeit auf ihn richtete. Sein Hals war trocken. Sein Kopf war leer. Er war selbst überrascht über den Satz, den er hervorbrachte:
– Ich bin nicht sicher, ob ich verstanden habe, worum es geht, sagte Kurt.
Der Genosse Ernst kniff die Augen zusammen, als könne er Kurt schlecht erkennen. Noch immer konnte man glauben, dass er lächelte, aber sein Gesicht hatte sich in etwas Gemeines, Schweinsartiges verwandelt.
Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann beugte Günther sich zu dem Schweinsgesicht hin. Es war jetzt so still im Raum, dass Kurt hören konnte, was Günther flüsterte:
– Der Genosse Umnitzer war letzte Woche in Moskau.
Das Schweinsgesicht sah Kurt an, nickte.
– Genosse Umnitzer, niemand zwingt dich, hier Stellung zu nehmen.
Und an alle gewandt ergänzte er:
– Wir führen ja hier keinen Schauprozess durch, nicht wahr, Genossen?
Er lachte. Irgendwer lachte mit. Erst als der nächste Kollege sprach, merkte Kurt, dass seine Hände zitterten.
Seine Hand zitterte noch immer, als er sie hob, um für den Parteiausschluss Rohdes zu stimmen.
Dann hatte er Durst. Nach der Versammlung stieg er die Treppe hinunter, um dem Ansturm auf die Toiletten im oberen Stock zu entgehen, und als er die Tür der Herrentoilette ein Stockwerk tiefer öffnete, stand er Rohde gegenüber. Rohde sah ihn an, streckte ihm die Hand entgegen.
– Danke, sagte er.
– Wofür, fragte Kurt.
Er zögerte, die Hand zu ergreifen. Sie war, als er sie doch ergriff, kalt und feucht. Aber hoffentlich, dachte Kurt, schon gewaschen.
Kurz vor sechs war Kurt bereits auf dem Ostbahnhof, früher als sonst. Der Zug fuhr pünktlich ab, blieb dann aber eine Station vor Bergholz stehen: Betriebsstörung, der Schaffner bat um ein wenig Geduld.
Nicht dass eine Betriebsstörung auf dieser Strecke etwas Außergewöhnliches gewesen wäre. Aber das halblaute Gerede der anderen Fahrgäste ging Kurt plötzlich auf die Nerven. Er wollte nachdenken, doch in dem stehenden Zug schienen auch seine Gedanken blockiert zu sein. Er stieg aus, überquerte unvorschriftsmäßig die Bahngleise und machte sich auf den Weg. Zwar begann es bereits zu dämmern, aber bis Neuendorf waren es keine zehn Kilometer. Er kannte die Gegend, hier hatten sie im Herbst einmal Pilze gesucht. Statt jedoch der Straße zu folgen, die einen umständlichen Bogen über ein Nachbardorf beschrieb, nahm Kurt von Schenkenhorst aus einen Fahrweg, der ihn ein Stück nordwestlich wieder zur Straße führen würde – auf seinen Orientierungssinn konnte er sich verlassen.
Er ging zügig, wenngleich seine Knie vor Hunger schon etwas weich waren. Am Ostbahnhof hatte er noch erwogen, eine Currywurst zu kaufen, hatte es dann aber, aus Angst vor Magenbeschwerden, unterlassen. Nun rutschte das Hungergefühl allmählich in die Kniekehlen, Unterzuckerung nannte man das. Kein Grund zu Beunruhigung. Kurt wusste, wie lange der Körper trotz Hunger noch zu
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