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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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– nicht Irina. Nicht der Indianer. Er atmete auf. Der eigene Atem kitzelte ihn im Hals, und sein Ausatmen ging in ein lautloses, glucksendes Lachen über. Dann schlug er einen respektvollen Bogen um das wippende Fahrzeug und machte sich davon.
    Es tröpfelte jetzt ein bisschen, aber der Regen kam nicht in Gang. Offenbar hatte sich ein Gewitter über der Havel verfangen. Kurt hatte die Richtung wieder, schritt jetzt gleichmäßig aus. Nein, er war hier nicht in der Taiga. Weder gab es hier Arbeitslager noch Braunbären, stattdessen standen blaue Trabbis im Wald, in denen die Leute fickten. Wenn das kein Fortschritt ist, dachte Kurt. Und war es nicht auch ein Fortschritt, wenn man die Leute – anstatt sie zu erschießen – aus der Partei ausschloss? Was erwartete er? Hatte er vergessen, wie mühsam die Geschichte sich vorwärtsbewegte? Auch die Französische Revolution hatte unendliche Wirrnis nach sich gezogen. Köpfe waren gerollt. Ein selbstgekrönter Revolutionsgeneral hatte ganz Europa mit Krieg überzogen. Jahrzehnte hatte diese – bürgerliche – Revolution gebraucht, um bei ihren Zielen anzukommen. Warum sollte es der sozialistischen Revolution anders ergehen? Man hatte Chruschtschow abgelöst. Irgendwann kam ein neuer Chruschtschow. Irgendwann kam ein Sozialismus, der diesen Namen verdiente – wenn auch vielleicht nicht mehr in seiner Lebenszeit, in jenem winzigen Abschnitt der Weltgeschichte, dessen Zeuge er zufällig war und den er, verdammt nochmal, zu nutzen gedachte – jedenfalls das, was davon übrig geblieben war nach zehn Jahren Lager und fünf Jahren Verbannung.
    Es knatterte hinter ihm: Der Trabbi kam. Kurt trat beiseite und hob, was sonst nicht seine Art war, die Hand zum Gruß, blind gegen das Scheinwerferlicht, und empfand, obwohl er niemanden sah, eine glückselige Verschworenheit mit den Fremden im Auto, die – sehr wahrscheinlich – soeben irgendjemanden betrogen hatten.
    Jetzt regnete es tatsächlich. Es roch nach Regen und Wald und ein bisschen nach Zweitakter-Abgasen. Kurt atmete tief, atmete alles ein, schnüffelte dem Trabbi hinterher, und der süßliche Abgasgeruch kam ihm auf einmal vor wie der Geruch der Sünde. Es war wunderbar, am Leben zu sein. Wunderbar – und verwunderlich auch. Und wie so oft in diesen Momenten, wenn er es kaum fassen konnte, dass er tatsächlich lebte, dachte er zugleich daran, dass Werner nicht mehr lebte: sein großer kleiner Bruder, der Stärkere, immer, der Schönere von beiden … Aber während der Gedanke an Werner normalerweise mit einem Anflug von schlechtem Gewissen verbunden war, empfand Kurt dieses Mal etwas anderes, Neues, das nicht wie das schlechte Gewissen im Bauch saß, sondern weiter oben, in der Brust, in der Kehle. Es war etwas, das die Kehle verengte und die Brust weitete und das Kurt nach einiger Zeit als Trauer identifizierte. Es war weniger schlimm, als er gedacht hatte. Und es war auch, seltsamerweise, nicht zu trennen von dem Glück, das er empfand, sondern vermischte sich damit zu einer großen, die Welt einschließenden Empfindung. Was ihn schmerzte, war nicht so sehr der Tod, sondern das ungelebte Leben Werners. Zugleich aber empfand er es plötzlich als Trost, dass er an Werner denken, sich an ihn erinnern konnte, dass sein Bruder, solange er, Kurt, lebte, nicht völlig verschwunden war, dass er – im Gegensatz zu seiner Mutter, die sich die Ohren zuhielt, wenn man von Werner sprach! – seinen Bruder in sich bewahrte, ihn vor der endgültigen Vernichtung bewahrte, und er verstieg sich, während ihm das Regenwasser übers Gesicht lief, zu der (zugegeben unwissenschaftlichen) Vorstellung, er könne für seinen Bruder mitleben, mitatmen, mitriechen, ja sogar – und jetzt fiel ihm seine wundersame Verdopplung ein –, sogar mitficken, dachte Kurt, und Veras Dinger erschienen in einem ganz neuen Licht: Mitficken, dachte Kurt, im Namen seines ermordeten Bruders.

1. OKTOBER 1989
    Manchmal vergaß er, was zu tun war.
    Es kam ihm so vor, als sei er über Nacht erstarrt.
    Er rollte probehalber mit den Augen.
    Seine linke Hand zuckte.
    Er drehte den Kopf zuerst nach rechts, dann nach links.
    Er sah, dass ihn aus dem Halbdunkel etwas angrinste.
    Wilhelm nahm sein Gebiss aus dem Wasserglas und stand auf.
    Er ging ins Bad. Er ließ Badewasser ein. Er brachte die große Höhensonne Typ «Sonja» in Gang und setzte sich, ausgerüstet mit einer dunklen Schutzbrille, in die Wanne.
    Sein Kopf war leer. In seinem Kopf war nur das

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