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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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ja vergiftet.
    Wilhelm ging in die Diele, wo die Grabsteine in Reih und Glied standen. Schwach leuchteten ihre leeren Etiketten im rötlichen Licht. Wofür, dachte Wilhelm. Die Idee, den Rotstift zu nehmen und ihre Namen draufzuschreiben – Wilhelm beherrschte sich. Ohnehin wusste er von den meisten nur die Decknamen. Die, allerdings, wusste er noch. Clara Chemnitzer. Willi Barthel. Sepp Fischer aus Österreich … Alle wusste er noch. Würde sie niemals vergessen. Würde sie mit ins Grab nehmen, bald.
    Es klingelte, draußen stand der Pionierchor. Die Pionierleiterin sagte: Drei vier, und der Chor sang das Lied vom kleinen Trompeter . Schönes Lied, aber nicht das, was er meinte. Nicht das, was ihm die ganze Zeit durch den Kopf ging.
    Er summte es der Pionierleiterin vor, aber sie wusste es auch nicht.
    – Egal, sagte Wilhelm.
    Es war eine junge Pionierleiterin, fast selber noch Pionier. Wilhelm holte einen Hundertmarkschein aus seiner Brieftasche.
    – Aber Genosse Powileit, das kann ich auf keinen Fall annehmen!
    – Papperlapapp, sagte Wilhelm. Kauf den Kindern ein Eis, ist mein letzter Geburtstag.
    Er steckte der Pionierleiterin den Hundertmarkschein ins Dekolleté.
    – Dann nehmen wir es für die Klassenkasse, sagte die Pionierleiterin.
    Ihr Gesicht hatte rote Flecken bekommen. Sie dirigierte die Kinderschar aus dem Garten. An der Pforte drehte sie sich noch einmal um. Wilhelm biss die Zähne zusammen und winkte.
     
    Er marschierte in den Salon. Marschierte, weil ihm ständig die Melodie durch den Kopf ging. Charlotte stand gerade am Telefon. Als er kam, legte sie den Hörer auf.
    – Nimmt niemand ab, sagte sie.
    Wilhelm sah, dass Charlotte nervös war. Instinktiv hakte er nach.
    – Und – wo bleibt Alexander?
    – Es nimmt niemand ab, wiederholte Charlotte. Kurt nimmt nicht ab.
    – Na bitte, sagte Wilhelm. Da haben wir es wieder.
    – Was haben wir?
    – Schlamassel, sagte Wilhelm.
    – Da ist irgendetwas passiert, sagte Charlotte.
    – Ich zieh den Ausziehtisch aus, sagte Wilhelm.
    – Du ziehst gar nichts aus, du lässt mich jetzt einmal nachdenken.
    – Papperlapapp, sagte Wilhelm. Wer zieht denn den Ausziehtisch aus?
    – Du ziehst den Ausziehtisch jedenfalls nicht aus, sagte Charlotte. Du hast schon genug kaputt gemacht in diesem Haus!
    Eine unverschämte Behauptung, die Wilhelm hätte entkräften können, indem er aufzählte, welche Instandsetzungsarbeiten er im Laufe von fast vierzig Jahren durchgeführt, welche Elektrogeräte er repariert, welche Umbauten er bewerkstelligt, welche haushaltstechnischen Verbesserungen er vorgenommen hatte – viele schwierige Worte, zu schwierig, zu umständlich, zu lang, und so machte Wilhelm lediglich einen Schritt auf Charlotte zu, baute sich, seine Körpergröße ausspielend, vor ihr auf und sagte:
    – Ich bin Metallarbeiter. Ich bin siebzig Jahre in der Partei. Wie lange bist du in der Partei?
    Charlotte schwieg. Sie schwieg!
    Wilhelm wandte sich um und verließ, um sich seinen kleinen Sieg nicht noch zu vermasseln, den Raum.
    In der Diele standen zwei Männer.
    – Delegation, sagte Lisbeth.
    – Aha.
    Wilhelm gab beiden die Hand.
    – Ihre … Ihre …, sagte der eine Mann und zeigte auf Lisbeth.
    – Haushaltshilfe, ergänzte Lisbeth.
    – Ihre Haus Hals Hilfe hat uns hereingelassen, sagte der Mann.
    – Schöner Fisch, sagte der andere, auf die Muschel deutend, in die Wilhelm die Glühlampe eingebaut hatte.
    Sie standen dicht beieinander, beide gedrungen, fast krumm, beide trugen etwas zu helle, zu saubere Mäntel. Der Mann, der Haus Hals Hilfe gesagt hatte, hielt einen Teller in der Hand.
    Er räusperte sich und begann zu reden. Er redete leise und umständlich, die Worte lösten sich langsam aus ihm heraus, so langsam, dass Wilhelm das letzte Wort schon vergessen hatte, bevor das nächste aus dem Mann herauskam.
    – Zur Sache, Genossen, mahnte Wilhelm. Ich hab zu tun.
    – Kurz und gut, sagte der Mann, du erinnerst dich, Genosse Powileit, an, Stichwort Kuba, unsere, damals, Spendenaktion, und wir dachten, es wäre in deinem Sinn, wenn wir das Thema hier, also dargestellt als ein Fahrzeug, so wie es in unserem Werk hergestellt wird, thematisch, äh, darstellen.
    Er hielt Wilhelm den Teller vor die Nase. Aha, dachte Wilhelm. Er holte einen Hundertmarkschein aus seiner Brieftasche und knallte ihn auf den Teller.
    Da guckten sie. Aber an seinem Geburtstag wollte er sich nun wirklich nicht lumpenlassen.
     
    Dann kam Mählich: Punkt elf.
    – Wilhelm,

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