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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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gewohnheitsgemäß alle Artikel ausstrich, die er gelesen hatte, damit er nichts zweimal las. Glücklicherweise bemerkte er seinen Fehler sofort und wendete das Blatt, bevor Charlotte den Schreibtisch erreichte.
    – Wenn du deine Tabletten nicht nimmst, sagte Charlotte, rufe ich Dr.   Süß an.
    – Wenn du Dr.   Süß anrufst, dann sage ich ihm, dass du mich vergiftest.
    – Du bist ja vollkommen übergeschnappt.
    Charlotte ging – mit Wasserglas und Tabletten.
    Wilhelm blieb sitzen und betrachtete sein versehentlich ausgestrichenes Leben. Was nun? Eliminieren, sagte ihm sein konspirativer Instinkt. Er zerriss das Blatt und warf es in den Papierkorb … Zum Teufel damit. Das Wichtigste stand sowieso nicht drin. Das Wichtigste stand in keinem seiner Dutzend Lebensläufe. Das Wichtigste war sowieso ausgestrichen .
    Sein anderes Leben. Lüddecke Import Export . Die Hamburger Zeit. Seltsam, daran erinnerte er sich ohne Mühe:
    Sein Hafenbüro.
    Nachts der Wind.
    Das Versteck für seine Korowin Kaliber sechs fünfunddreißig – er würde es heute noch finden.
    Jetzt war die Melodie wieder da. Er sah aus dem Fenster. Die Sonne schien. Der Himmel war blau, und zwischen den allmählich vergilbenden Blättern der Eberesche hingen in roten Dolden die Beeren. Ein schöner Tag. Ein herrlicher, wunderbarer Tag, dachte Wilhelm und biss seine Zähne zusammen. Versuchte, es wegzubeißen.
    Wofür?
    Wofür hatte er seinen Arsch riskiert? Wofür waren die Leute draufgegangen? Dafür, dass irgend so ein Emporkömmling jetzt alles zugrunde richtete?
    Tschow, dachte Wilhelm: wie damals Chruschtschow. Seltsam, immerhin, dass beide mit «tschow» aufhörten.
    Er nahm den Schuhkarton, ging zum Schrank. Die Orden klapperten, als er ihn hineinstellte.
    Er ging in die Diele. Einen Augenblick überlegte er, was zu tun war. Als er die Blumenvasen sah, fiel es ihm ein. Er ging zurück in sein Zimmer und holte die Lupe. Dann griff er eine Blumenvase heraus. Auf der Blumenvase klebte ein Etikett. Auf dem Etikett stand – nichts. Er griff eine zweite Vase heraus: nichts. Er prüfte die dritte …
    Wilhelm marschierte in den Salon.
    – Da steht ja nichts drauf, sagte er.
    – Wo steht nichts drauf?
    – Auf den Blumenvasen.
    – Du, ich hab jetzt wirklich Wichtigeres zu tun, sagte Charlotte.
    – Verdammt, ich habe gesagt, die Blumenvasen werden beschriftet.
    – Dann beschrifte sie doch, sagte Charlotte und nahm eine Tischdecke aus dem Schrank, ohne sich weiter um Wilhelm zu kümmern.
    Gern hätte er Charlotte erklärt, dass das blödsinnig war: Jetzt konnte man die Vasen nicht mehr beschriften. Vorher hätte man die Vasen beschriften müssen, damit hinterher jeder wieder die richtige Vase zurückbekam. Aber es lohnte sich nicht, mit Charlotte zu streiten. Um mit Charlotte zu streiten, war seine Zunge zu schwer, und sein Kopf brauchte zu lange, um Worte aus seinen Gedanken zu machen.
    Er marschierte zurück in die Diele. Was war jetzt zu tun? Er blieb stehen, betrachtete ratlos die Blumenvasen, die in Reih und Glied in der Garderobennische standen.
    Plötzlich sahen sie aus wie Grabsteine.
     
    Die Haustür ging, Lisbeth kam. Raschelte mit den Kleidern. Brachte den Herbstgeruch mit herein. In der Hand hielt sie einen Strauß Rosen.
    – Herzlichen Glückwunsch, sagte sie.
    – Lisbeth, du sollst kein Geld für mich ausgeben.
    Lisbeth hielt ihm die Blumen hin, strahlte. Ihre Zähne waren ein bisschen schief. Aber ihr Hintern war stramm, und ihre Brüste schwappten durchs Dekolleté wie Wellen durchs Schwimmbecken.
    – Aber nachher nimmst du sie wieder mit, befahl Wilhelm. Und jetzt mach mir mal einen Kaffee.
    – Aber Charlotte hat’s doch verboten, dass ich dir Kaffee mach, flüsterte Lisbeth: Wegen dei’m Blutdruck.
    – Papperlapapp, sagte Wilhelm. Du machst mir jetzt Kaffee.
    Er ging ins Zimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Was war zu tun? Er wusste es nicht, aber da er vor Lisbeth nicht zugeben wollte, dass er es nicht wusste, nahm er seine Lupe zur Hand und suchte ein Buch im Regal. Tat, als würde er ein Buch im Regal suchen. Fand aber den Leguan. Es war ein kleiner Leguan. Er hatte ihn vor langer Zeit mit der Machete erschlagen und ausstopfen lassen. War sehr gut ausgestopft, der Leguan, sah beinahe aus wie lebendig. War aber tot. War tot und verstaubte im Bücherregal, und Wilhelm tat es auf einmal leid, dass er den Leguan mit der Machete erschlagen hatte. Wer weiß, vielleicht würde er heute noch leben? Wie lange lebten

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