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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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Gesichtshälfte.
     
    Noch an diesem Sonntag schrieb er einen reuigen Brief an Christina. Christina jedoch, die ihm bisher täglich geschrieben hatte, schrieb ihm nicht, jedenfalls war am Dienstag und auch am Mittwoch kein Brief von ihr da. Am Donnerstag drohte Alexander ihr mit der Trennung und hätte die Drohung am Freitag zurückgenommen, wenn nicht der Gefechtsalarm dazwischengekommen wäre.
    Zum ersten Mal händigte man ihnen nicht nur die Waffe aus, sondern auch zwei volle Magazine mit je dreißig Schuss Munition. Beim anschließenden Appell erklärte der Kompaniechef, ein kurzbeiniger Mann mit scharfer Stimme, dass sie im Grenzabschnitt Sowieso zur Hinterlandssicherung eingesetzt würden, da eine sogenannte Lage entstanden sei: Ein Soldat der Sowjetarmee sei mit einem Autobus Typ Ikarus , einer Kalaschnikow und sechzig Schuss Munition unterwegs, vermutlich in Richtung Staatsgrenze zwischen Stapelburg und dem Brocken.
    Sie fuhren etwas mehr als eineinhalb Stunden, wurden dann, immer in Dreiergruppen, irgendwo im Wald ausgesetzt, Alexander zusammen mit Kalle Schmidt, dem die Hände zitterten, und Behringer, der schon mehrmals auf der Stube hatte verlauten lassen:
    – Wenn die Arschlöcher mir wirklich an die Grenze lassen, hau ick ab!
    Dann lagen sie an einer Weggabelung im Wald. Wo die Grenze war, wussten sie nicht genau. In der Ferne bellten Hunde. Bald war es so dunkel, dass sie einander nicht sahen. Im Wald krachte und quietschte es, allenthalben hörten sie Schritte, Kalle lud seine Waffe durch und forderte unsichtbare Gestalten auf, die aktuelle Parole zu nennen, und auch Alexander lud seine Waffe durch, sah Gespenster, wenn er lange genug auf den schwach sich abzeichnenden Weg starrte, und achtete auf jedes Wort, auf jedes Geräusch, das aus Behringers Richtung kam.
    Nachmittags um vier waren sie abgesetzt worden. Gegen zwölf Uhr nachts hörten sie das typische Kreischen eines auf hohen Touren laufenden LO-Motors, der die Ablösung brachte: Acht Stunden, die normale Grenzschicht – das war, was ihnen bevorstand, wenn sie nach der Ausbildung in eine Grenzkompanie versetzt wurden, acht Stunden täglich, in wechselnder Schicht, ein Jahr lang. Alexander war es ein Rätsel, wie er das durchhalten sollte, er wusste nicht einmal, wie er bis Weihnachten durchhalten sollte, durchhalten, bis er Christina das nächste Mal wiedersah.
    Die Idee kam ihm in dem Augenblick, als der Offiziersschüler vergaß, seine Waffe auf Sicherheit zu überprüfen. Bei den beiden anderen, Kalle Schmidt und Behringer, die vor ihm auf die Ladefläche gestiegen waren, hatte er die Kontrolle ordnungsgemäß durchgeführt, aber dann war der Lkw ein Stück zurückgerollt und hatte den Offiziersschüler beinahe umgeworfen, und während dieser den Fahrer zusammenschiss, war Alexander auf die Ladefläche gekrochen und hatte sich stumm zwischen die anderen gesetzt: mit einer schussbereiten Waffe zwischen den Knien. Nach dem Vorfall, so sah er voraus, würde man mühelos rekonstruieren, dass die Kontrolle infolge des Fahrerfehlers vergessen worden war; dass die Waffe noch nicht gesichert war, sondern noch immer auf Einzelfeuer stand, konnte er, Alexander, ohne weiteres übersehen haben; und denkbar war auch, dass er mit irgendeinem Teil seiner Ausrüstung am Abzug hängen blieb, dass die Waffe losging und an einer Stelle, die er sich in Ruhe aussuchen konnte, seinen linken Arm, den er «ganz zufällig» auf der Mündung der Kalaschnikow abgelegt hatte, durchschlug. Es waren nur Millimeter, die ihn vom Zustand dauernder Wehruntauglichkeit trennten, sein Daumen lag jetzt auf dem Abzug, es genügte eine Bodenwelle, es hätte die Einfahrt zur Kaserne genügt, nur war Alexander auf einmal nicht mehr sicher, ob der Sicherungshebel tatsächlich auf Einzelfeuer stand oder auf Dauerfeuer , sodass sich bei Betätigung des Abzugs möglicherweise gleich zwei oder drei Schüsse lösten – und dann war die Frage, was von seinem Arm übrig blieb.
    Erst bei der Abgabe der Waffen wurde bemerkt, dass noch das volle Magazin in der obendrein durchgeladenen Waffe steckte, und als Alexander zum Kompaniechef beordert wurde, rechnete er mit einem Anschiss, war auf alles gefasst, sogar darauf, den Rest der Nacht mit dem Gesicht auf den Stahlfedern zu schlafen. Aber zu seiner Überraschung bat ihn der Kompaniechef, sich zu setzen, und der joviale Ton, in dem er zu sprechen begann, hätte Alexander beinahe verleitet zu korrigieren: Stief großvater – er hatte

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