Ruge Eugen
öffnete sich die Tür, und der Türsteher stellte sich auf die Zehenspitzen und vollzog mit unbewegtem Gesicht das Ritual, das schlicht darin bestand, dass er seinen Zeigefinger über der Menge kreisen ließ und mit einem knappen Du, Du und Du drei oder vier Glückliche bestimmte – ein Auswahlverfahren, das jeder Berg -Besucher kannte und akzeptierte, auch wenn – oder gerade weil? – die Kriterien verschwommen blieben.
Christina hatte bei diesem Verfahren nie Schwierigkeiten gehabt. Sie erfüllte offenbar alle Voraussetzungen, um den Zeigefinger des Türstehers auf sich zu lenken: ihre hellblonden Haare, ihre wasserblauen Augen, der schicke, rauchblaue Ledermantel, der, wie auch das knallkurze Acrylkleid, das sie unter dem nun absichtlich geöffneten Mantel trug, von ihrer im Westen lebenden Schwester stammte (beides unmittelbare Konsequenzen des Grundlagenvertrages zwischen der DDR und der BRD) – Christina kam sofort dran und zog Alexander hinter sich her, der auf diese Weise noch immer ganz selbstverständlich mit durchgeschlüpft war.
Aber dieses Mal schob der Türsteher den Arm zwischen ihn und Christina und sagte:
– Stopp.
– Der gehört zu mir, sagte Christina.
Aber Alexander, statt die – vielleicht ja wohlwollende – Entscheidung des Türstehers abzuwarten, drehte sich um und ging.
Nun, nachdem er wieder mal alles versaut hatte, bestand Christina darauf, wenigstens noch ins Café Hertz zu gehen und ein Glas Wein zu trinken. Tatsächlich bekamen sie einen Platz, allerdings den blödesten, im Gang gegenüber der Kuchentheke, wo sie bei grellem Licht eine Flasche Rosenthaler Kadarka tranken, während Christina aus der Ferne alte Bekannte grüßte und hin und wieder jemand an ihren Tisch trat, sich über Alexanders Haarschnitt mokierte oder sich höflich oder hämisch oder mitfühlend nach seinem Befinden erkundigte, bevor er von einem genervten Kellner aufgefordert wurde, aus dem Gang zu treten – und zu alldem machte Alexander ein irgendwie passables Gesicht, versuchte Haltung zu wahren, sich nicht zu beklagen, nicht wütend zu werden, nicht eifersüchtig (oder es wenigstens nicht zu zeigen) und keinesfalls von der Uniformfrage anzufangen – denn jetzt gab es nur noch ein Ziel, das er unter keinen Umständen gefährden wollte.
Auf dem Heimweg gelang es ihm sogar, so etwas wie gute Laune vorzutäuschen, er erinnerte Christina daran, wie sie das erste Mal – damals, im Kellermann-Haus – tanzen gewesen waren, wie er sie danach nach Hause und sie ihn zur Straßenbahn und er sie wieder nach Hause und sie ihn wieder zur Straßenbahn gebracht hatte, und Christina ließ es zu, dass er seine Hand um ihre Hüfte legte, wie damals, er spürte die Bewegung ihrer Hüften, glaubte sogar, die aufregend grobe Textur des Acrylkleides unter dem Mantel zu ertasten, und stellte sich, während die Luft, die er einatmete, immer zäher wurde, alles Mögliche vor, Szenen am Kühlschrank, mit hochgeschobenem Kleid oder, weniger eilig, bei Plattenspielermusik und gedämpfter Beleuchtung – aber als sie nach Hause kamen, war der Dauerbrandofen seit Stunden aus, die Zimmertemperatur war annähernd auf Außentemperatur gesunken, Christina zog sich rasch und ohne Umstände aus und verkroch sich unter der Bettdecke, Alexander legte sich daneben, kam sich so unbeholfen vor wie beim ersten Mal, versuchte mechanisch und mit zunehmender Verzweiflung Christina zu erwärmen, drang schließlich in sie ein und hatte, kaum dass er in sie eingedrungen war, einen ergiebigen, aber flachen Erguss.
Am Morgen unternahm er einen zweiten Versuch, noch schlaftrunken und mit dem Nachgeschmack von Alkohol und Zigaretten im Mund; sie rieben sich aneinander, ohne sich anzusehen, und brachten es, immerhin, mehr oder weniger zusammen zu Ende.
Alexander heizte den Dauerbrandofen an, stieg zwei Treppen zur Toilette hinab, brachte auf dem Rückweg gleich Wasser mit und ging, während Christina Frühstück machte, noch einmal los, um Brötchen von Bäcker Braune zu holen. Sie löffelten ihre Frühstückseier, tranken, obwohl sie sich noch kein einziges Mal bei ihren Kosenamen genannt hatten, Kaffee aus ihren «Bonny-Tassen», und Alexander fragte Christina, ob sie ihn noch liebte.
Statt zu antworten, fragte sie ihn, ob er sie noch liebte. Und dabei verzog sie den Mund, so wie sie ihn verzog, wenn sie von Büchern redete, die er nicht gelesen hatte, und Alexander kam der Gedanke, dass Christina vielleicht gar nicht so schön war, wie er
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