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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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wollten (das heißt, Christina wollte auf den Berg , Alexander hätte sich lieber einen gemütlichen Abend mit Christina gemacht, nahm es aber wiederum als gutes Zeichen, dass sie unbedingt tanzen gehen wollte: Sie sitze, so sagte sie, schon seit zwei Monaten allein in der Bude) – Irina also improvisierte ein «kleines» Abendbrot. Man aß zusammen, das heißt, eigentlich aß nur Alexander: Irina, obgleich sie sich immer beschwerte, dass sie nie etwas mitbekam, verschwand gleich wieder in der Küche, um nur hin und wieder, Zigaretten rauchend, hereinzurauschen und kryptische Kommentare abzugeben; Kurt war es zum Abendessen noch zu früh (du weißt doch, mein Magen!), und Christina stocherte ein bisschen in der Zwiebelsuppe, die Irina rasch gezaubert hatte – und nur Alexander, der außer einem Mortadellabrötchen nichts im Magen hatte, aß, stopfte geräucherte Schweinefilets und bulgarischen Käse in sich hinein, aß schließlich noch Christinas Zwiebelsuppe auf, während er dem Tischgespräch lauschte, das zwischen verschiedenen Themen mäanderte und, ausgehend vom allgegenwärtigen Mangel in der DDR, in diesem Falle dem Mangel an Zwiebeln, auf die Erdölkrise im Westen kam (wo, Gott sei Dank, auch nicht alles klappte) und von dort über den Jom-Kippur-Krieg und die ehemaligen Nazis in Nassers Armee zum «Krieg der Geschlechter» sprang (einem Film, der kürzlich im Westfernsehen gelaufen war), um dann doch wieder in die real existierende Welt zurückzuspringen, nämlich zu Christinas Bibliothek (wo man einen chilenischen Exilanten eingestellt hatte, der bei der Ermordung Victor Jaras dabei gewesen war) und schließlich, nach den unvermeidlichen Klagen über die Dummheit der Leser, zu irgendeinem politischen Handbuch, über das Christina und Kurt sich einvernehmlich amüsierten, weil der Name von Honeckers Vorgänger in der Neuauflage vollständig eliminiert worden war, nachdem er ursprünglich auf beinahe jeder Seite gestanden hatte. Wie bei George Orwell, bemerkte Christina, die gerade George Orwell las, und als sie das sagte, verzog sich ihr Mund oder, genauer gesagt, eine Seite ihres Mundes, und zwar so, dass der Mundwinkel (und nur der Mundwinkel) zu einer fast beide Zahnreihen entblößenden Öffnung aufklaffte, was ihr einen ironischen, kalten Ausdruck verlieh – wie immer, wenn sie über Bücher sprach, die Alexander nicht kannte. Dann stellte man fest, dass man sich bereits verquatscht hatte, Irina spendierte – Ausnahme Weise – ein Taxi, und erst als das Taxi schon da war, als Christina und Alexander die Steintreppe hinabstiegen und Irina und Kurt, einander umarmend, auf der Empore vor der Haustür standen und ihnen mit dem jeweils äußeren, freien Arm hinterherwinkten – da erst fiel ihnen Wilhelm ein, und man verabredete, dass die Eltern sie, zusammen mit Oma Charlotte, morgen gegen elf Uhr zum Besuch im Krankenhaus abholen würden.
    – Ach, und zieh doch die Uniform an, rief Kurt Alexander noch hinterher.
    Alexander blieb stehen.
    – Uniform?
    – Na ja, Wilhelm möchte das gern.
    – Das ist doch nicht dein Ernst, sagte Alexander.
    Er schaute Kurt an. Dann Irina. Dann Christina. Ein paar Sekunden lang schwiegen alle. Dann sagte Alexander:
    – Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass ich morgen die Uniform anziehe.
    – Komm, so schlimm ist es nicht, sagte Christina.
    – Ist vielleicht letzte Mal, sagte Irina.
    – Ich versteh dich ja, sagte Kurt.
    Aber er solle doch bedenken, dass er sonst (also ohne dass Wilhelm starb) gar keinen Urlaub bekommen hätte. Und er könne sich doch im Auto umziehen. Und die Omi habe persönlich an seinen Regimentskommandeur telegrafiert. Und, Herrgott, bescheuert, ja, aber du weißt doch, wie Wilhelm ist.
    – Fahren wir jetzt oder machen wir Picknick, sagte der Taxifahrer.
    Sie stiegen ein.
     
    Vor dem Berg stand wie immer ein Pulk von Leuten, die allesamt keine Karten hatten. Eine Flasche Wodka ging um. Man wiegte sich zu der sich leicht überschlagenden, durch Fenster und Wände dringenden Musik, und gerade als Alexander und Christina ankamen, setzte das zweistimmige Gitarrenriff von No One to Depend On ein, traurig, schneidend, schön, ein Santana-Song, den die Delfine, wie es die Fans erwarteten, Takt für Takt, Ton für Ton, Seufzer für Seufzer nachspielten, so als stünde Carlos Santana selbst auf der Bühne, und genauso originalgetreu kamen Fools von Deep Purple und sogar Hey, Joe in der Fassung von Jimi Hendrix herüber, und in der ersten Pause

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