Ruge Eugen
einschlief, musste den Rest der Zeit stehen.
Am fünften Tag bekam er den ersten Brief von Christina. Er riss ihn sofort auf, las ihn noch auf dem Weg ins Zimmer. Las ihn noch einmal richtig, steckte ihn in die Brusttasche. Las ihn dann abends im Bett.
Der sechste Tag war ein Sonntag. Sonntags durfte man in den Kulturraum der Kompanie – wenn man die Ausgangsuniform anzog. Dort durfte man selbst mitgebrachten Kaffee trinken.
Alexander hatte keinen selbst mitgebrachten Kaffee. Er blieb im Zimmer. Las, auf dem Bett liegend, zum fünften oder zehnten oder fünfzehnten Mal den Brief von Christina. Las mit Erleichterung, dass sie nach seiner Abfahrt «den ganzen Tag traurig» gewesen war. Las mit Unbehagen, dass sie am Wochenende mit einer Kollegin aus der Bibliothek zum Scharmützelsee fahren würde: um sich «ein bisschen abzulenken». Machte ihr – in seiner Antwort – kleine Vorwürfe deswegen. Strich die Vorwürfe wieder aus. Fing noch einmal von vorn an. Beschrieb den Blick aus dem Fenster: ein Neubaublock, dahinter ein Zaun. Er hätte noch schreiben können: dahinter ein Panzerübungsgelände. War sich aber nicht sicher – gehörte das schon zu den militärischen Belangen, über die sie, wie gesagt wurde, zu schweigen hatten? Wurde der Brief kontrolliert?
Am siebenten Tag standen sie im Gelände, Linie zu einem Glied (was bedeutete: in drei Reihen), und warteten auf irgendwas (dass Stehen und Warten zu den Hauptbeschäftigungen eines Soldaten gehörte, hatte Alexander bereits gelernt). Noch immer hatte er leichte Kopfschmerzen vom Kaffeeentzug, der Stahlhelm drückte, Teil eins, Teil zwei auf dem Rücken, die Gasmaskentasche um den Hals, die Kalaschnikow über der Schulter. Die Ohren, noch immer ungewohnt nackt, begannen zu zwicken im scharfen Wind, der unter dem weit ausladenden NVA-Stahlhelm hindurchpfiff, aber sie standen, es war ihnen nicht erlaubt, sich zu rühren. Alexander sah auf den Nacken des Vordermanns, auf seine Ohren, welche genau so aussahen, wie seine eigenen Ohren sich anfühlten, nämlich knallrot – und musste auf einmal an Mick Jagger denken; fragte sich, was wohl jetzt, während er hier stand, auf diesem Übungsgelände, das Katzenkopf hieß, und auf die roten Ohren seines Vordermanns starrte, ein Mensch wie Mick Jagger tat. Undeutlich erinnerte er sich an ein Foto aus irgendeiner Westzeitschrift: Mick Jagger in seinem Schlafzimmer, in einem flauschigen Pullover und Leggins, ein bisschen weiblich, verschlafen, offenbar war er gerade aufgestanden, vielleicht, so stellte sich Alexander vor, würde er im nächsten Augenblick in eine sonnige, große Küche gehen, sich einen Kaffee brühen, falls das nicht jemand schon für ihn gemacht hatte, würde ein frisches Käsebrötchen und Weintrauben essen (oder wer weiß, was die da drüben aßen) und würde dann, während Alexander über den Katzenkopf robbte oder Trockenschießübungen machte oder sich in Einzelsprüngen über das Feld bewegte, ein bisschen auf der Gitarre klimpern und ein paar Einfälle notieren, oder sich in einer bizarren Limousine zum Studio kutschieren lassen, um einen neuen Song aufzunehmen, den er dann auf der nächsten Tournee der Weltöffentlichkeit präsentierte, einer Tournee, bei der er, Alexander, nicht dabei sein würde, so wie er auf keiner Rolling-Stones-Tournee je dabei gewesen war und auf keiner Rolling-Stones-Tournee je dabei sein würde, niemals, dachte Alexander, während er mit Stahlhelm und Teil eins und Teil zwei auf dem Katzenkopf stand und auf die roten Ohren seines Vordermanns starrte, niemals würde er die Rolling Stones live erleben, niemals würde er Paris oder Rom oder Mexiko sehen, niemals Woodstock, noch nicht einmal Westberlin mit seinen Nacktdemos und seinen Studentenrevolten, seiner freien Liebe und seiner Außerparlamentarischen Opposition, nichts davon, dachte Alexander, während jetzt irgendein Unterfeldwebel mit der Dienstvorschrift in der Hand erläuterte, welche Position vom Schützen beim Liegendschießen einzunehmen sei, nämlich in sich gerade, schräg zum Ziel , nichts davon würde er je sehen, nichts davon würde er miterleben, weil zwischen hier und dort, zwischen der einen Welt und der anderen, zwischen der kleinen, engen Welt, in der er sein Leben würde verbringen müssen, und der anderen, der großen, weiten Welt, in der das große, das wahre Leben stattfand – weil zwischen diesen Welten eine Grenze verlief, die er, Alexander Umnitzer, demnächst auch noch bewachen
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