Ruge Eugen
Wilhelm nie Großvater genannt, jedoch auch nicht Stief großvater, vielleicht unterließ er es deswegen, den Kompaniechef zu korrigieren, zum Glück: Die Mitteilung des Kompaniechefs lautete, sein Großvater, der Genosse Wilhelm Powileit, liege mit einer schweren Lungenentzündung im Krankenhaus, und sein Zustand sei so ernst, dass Alexander sich auf «das Schlimmste» gefasst machen müsse.
Alexander nickte, setzte ein Betroffenheitsgesicht auf, während er, innerlich jubelnd, den Urlaubsschein entgegennahm:
– Ich hoffe, Sie kommen noch rechtzeitig.
Am Morgen saß Alexander in der Bahn. Eine fröstelnde Müdigkeit umgab ihn, aber er mochte nicht schlafen. Er sah aus dem Fenster, die Landschaft kam ihm, trotz der spätherbstlichen Kargheit, bunt und üppig vor, überall war etwas zu sehen, Dörfer, Kühe, Bäume, Menschen, die gelassen eine Straße entlanggingen. Er war gerührt von der Freundlichkeit des Schaffners, also von der Tatsache, dass er ihn nicht anbrüllte, sondern einfach nur um seine Fahrkarte bat, von der Freundlichkeit der Fahrgäste, die es, und sei es nur aus Zerstreutheit, fertigbrachten, ihm den Vortritt zu lassen, die mit ihm sprachen, als wäre er ein völlig normaler Mensch.
Die Fahrt dauerte – mit zweimal Umsteigen – lange. Vom Hauptbahnhof Potsdam aus fuhr man noch einmal zwanzig Minuten mit der Straßenbahn bis in die barocke Potsdamer Altstadt, deren Hauptachse (benannt nach Klement Gottwald, dem Mörder Slánskýs) jahrelang saniert worden war. Aber es genügte, wenige Schritte von der Hauptachse abzuweichen, und man befand sich in einer ganz normalen, das heißt verfallenden Straße mit ursprünglich hübschen, zweistöckigen Wohnhäusern, deren Fassaden nun grau und schwarz und vom aus löcherigen Dachrinnen tropfenden Regenwasser gescheckt waren. Hier und da konnte man im Putz, sofern vorhanden, sogar noch Einschüsse aus den letzten Kriegstagen erkennen.
Gutenbergstraße sechzehn. Klingel funktionierte nicht. Die Haustür war, wie so oft, abgeschlossen: Frau Pawlowski hatte Angst um ihre Katzen. Zum Glück tauchte sie, mit Katzen, gerade am Fenster auf, erkannte Alexander nach kurzer Prüfung, und obwohl sie ihn immer als Eindringling betrachtet hatte, gegen den Krieg zu führen war, erbarmte sie sich, nun da er in Uniform vor der Haustür stand, deutete in Richtung Dachgeschoss und formte hinter dem Fensterglas den leicht von den Lippen abzulesenden Satz:
– Ick saach Bescheid!
Einige Augenblicke später drehte sich der Schlüssel im Schloss, Christina erschien, ein bisschen zerzaust, mit hochgeschobenen Ärmeln und einer Schürze um den Hals.
– Ach, sagte sie, einfach nur: Ach. Und forderte ihn mit einer Kopfbewegung auf hereinzukommen.
Er trottete hinterher, schnupperte den wohlbekannten Hausflurgeruch (halb Schimmel, halb Katzenpisse), betrachtete andächtig das halbrunde Emaillebecken im oberen Flur, an dem sie ihr Wasser entnahmen, folgte Christina auf der krummen, knarrenden Treppe zum Dachboden, aus dem, vermittels zweier Lehmfachwerkwände, ein paar Kubikmeter herausgetrennt worden waren: das Mansardenzimmer, Christinas Mansardenzimmer, aber auch sein Mansardenzimmer, seine «Heimatadresse», seit er vor fast einem Jahr hier eingezogen war (noch als Schüler und unter dem Protest seiner Eltern), und jetzt doch wieder Christinas Zimmer: Vom ersten Augenblick an fühlte er sich wie zu Besuch. Anstatt sich, wie er es sich vorgenommen hatte, als Erstes die Uniform vom Leib zu reißen und sie in die Ecke zu feuern, setzte er sich in einen der beiden Drehsessel, die einzigen Sitzgelegenheiten im Zimmer, und sah Christina zu, die mit hochgekrempelten Ärmeln und fest um die Taille geschnürter Schürze am Kühlschrank stand und Geschirr spülte, versuchte, ihre Stimmung zu erraten, beobachtete fasziniert, wie sie Teller abtropfen ließ und Tassen aufeinanderstapelte, wie sie, um frisches Spülwasser zu erwärmen, den hohen Aluminiumtopf füllte und den Tauchsieder einsteckte, und jede ihrer Bewegungen erschien ihm auf kaum zu ertragende Weise sinnlich.
– Willst du ’n Kaffee, fragte Christina.
Alexander wollte keinen Kaffee.
Nachdem er sich umgezogen hatte (er nahm es als gutes Zeichen, dass seine Klamotten noch immer hier, in der Gutenbergstraße, waren), fuhren sie mit der Bahn nach Neuendorf und statteten seinen Eltern einen Besuch ab. Irina, ein bisschen enttäuscht darüber, dass sie den Abend nicht bleiben, sondern noch auf den sogenannten Berg
Weitere Kostenlose Bücher