Ruge Eugen
sollte.
Das war am siebenten Tag.
Am fünfundzwanzigsten Tag war Vereidigung. Die Zeremonie fand auf irgendeinem Platz außerhalb der Kaserne statt. Reden, Fahnen. Pauken, Trompeten. Dann legten sie den Eid ab, den sie im Politunterricht hatten auswendig lernen müssen. Ihre Vorgesetzten gingen durch die Reihen und prüften, ob jeder den Eid auch tatsächlich sprach.
Nach der Vereidigung hatten sie das erste Mal Ausgang. Christina und seine Eltern waren angereist. Seine Mutter weinte, als sie ihn in Uniform sah. Alexander beeilte sich, sie zu beruhigen: Ihm gehe es gut, es sei ja kein Krieg, und sogar das Essen sei annehmbar.
Christina nach fast einem Monat zu umarmen war sonderbar. Sie war kleiner, zarter, als er sie in Erinnerung hatte, umgeben von einer überwältigenden weiblichen Aura. Alexander sog die Luft ein, die sie durch ihre Bewegungen in Wallung brachte, fühlte sich ungelenk und lächerlich in seiner groben, schlechtsitzenden Uniform, mit seinem Topfschnitt und der albernen Mütze. Eine Sekunde lang glaubte er, das Erschrecken über seinen Anblick in Christinas Gesicht zu sehen, dann verfiel sie in eine unangebrachte Fröhlichkeit.
Sie gingen durch eine unbekannte Stadt, die Halberstadt hieß und in der es von Soldaten mit ihren Familien wimmelte. Die Restaurants waren überfüllt. Christina hatte die Idee, ein Stück auswärts ein Restaurant zu suchen, aber Alexanders Ausgang war – selbstverständlich – auf Halberstadt beschränkt. Also aßen sie in einem überfüllten Restaurant, wo es nur noch Letschosteak gab, Letschosteak. Irina aß nichts, sondern rauchte. Man sprach, während man auf das Essen wartete, über dieses und jenes; Kurt schrieb wieder an seinem Buch über Lenins Exil in der Schweiz, hoffte, nach dem Amtsantritt Honeckers, nun doch auf Veröffentlichung; Wilhelm war wieder einmal schwer erkrankt – Alexander ertappte sich bei dem Gedanken, dass er zu Wilhelms Beerdigung womöglich Sonderurlaub bekäme; Baba Nadja hatte sich entschlossen, in die DDR überzusiedeln, und da der bürokratische Vorgang Monate, wenn nicht Jahre in Anspruch nehmen würde, bangte man nun, ob die alte Frau die Wartezeit in Slawa noch überstehen werde. Dann fuhren Kurt und Irina ab, damit die Kinder noch ein bisschen unter sich sein konnten.
Sie hatten vier Stunden Zeit. Alexander beschloss, Christina die Kaserne zu zeigen. Sie gingen über den Berg, die Betonplattenstraße entlang, die direkt zum Panzerübungsgelände führte, und Alexander begann zu erzählen. Erzählte von Gewaltmärschen mit Sturmgepäck. Erzählte von Blasen an den Füßen, von Munitionskistengriffen, die in die Finger schnitten, von gefährlichen Übungsgranaten und von Radioaktivität, ja sogar, und fast mit Stolz, davon, wie in der Nachbarkompanie jemand ums Leben gekommen war, nachdem er, von den Ausbildern unbemerkt, in die Gasmaske erbrochen hatte, und spürte, während Christina seine Erzählung hin und wieder mit einem anerkennenden Aha oder einem bedauernden Ach Gott kommentierte, dass das alles irgendwie falsch war, und zwar nicht wegen der Übertreibungen, die ihm unterliefen, nicht wegen der kleinen Pointen, die er unwillkürlich zu setzen begann, sondern es war einfach das Falsche, es war nicht das, worum es ging.
Links, hinter hohen Bretterzäunen, tauchte die Russenkaserne auf, vergleichsweise bunt, orientalisch (der Zaun grün, die Gebäude gelb, die Bordsteine gekalkt, der rote Stern am Tor frisch gestrichen), und auf der rechten Seite, weit einsehbar hinter Stacheldrahtzaun: das Grenzausbildungsregiment (flach, grau, quadratisch). Alexander zählte stumm die Fenster, um Christina «sein» Zimmer zu zeigen, unterließ es dann aber. Was sagte der Anblick eines Fensters? Was sagte der Anblick eines Neubaublocks über die allgegenwärtige Idiotie, über das Gefühl des Eingesperrtseins, über die konkreten Kleinigkeiten, die einen Tag füllten und ausmachten: die ständige körperliche Nähe der Zimmergenossen, ihre Zoten abends vor dem Einschlafen, ihre Socken, die sie zum Ausdünsten über die Stiefel legten, oder das Anstehen an den Pissbecken am Morgen, zusammen mit einhundert Mann, und die unfreiwillige Zeugenschaft beim Abschütteln und Abklopfen und Abmelken des letztes Tröpfchens.
Immerhin fand Christina den Anblick der Kaserne «nicht gerade erfreulich», vermutete allerdings, dass so ein «Neubauobjekt» doch auch Vorteile hätte, so zum Beispiel hinsichtlich von Sauberkeit und Hygiene.
Alexander
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