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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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ihres eigenen Hauses. Wie hatte sie damals, als sie frisch aus Russland kam, Charlottes Haus bewundert! Und jetzt bewunderte Charlotte ihr Haus. Und manchmal, wenn Irina durch die Räume ging und ihr Werk betrachtete, war sie, ehrlich gesagt, selbst erstaunt, wie gut ihr das alles gelungen war; dass beinahe jede der tausend Entscheidungen, die bei so einem Umbau getroffen werden mussten – und die sie alle allein traf, weil Kurt stets für die einfachste, billigste, unaufwendigste Lösung plädierte  –, dass jede dieser Entscheidungen am Ende richtig gewesen war: die Wände, die sie weggenommen, die sie gesetzt hatte, die weiß Gott aufwendige Vergrößerung des Wintergartens, der Entwurf des Anbaus, in dem neuerdings Nadjeshda Iwanowna wohnte, die Größe der Badewanne, die Höhe der Fliesen, die Lage der Wasseranschlüsse oder der Heizkörper, der Steckdosen, der Lichtschalter, der Platz für den Herd – alles, alles war am Ende vernünftig und richtig gewesen, nur den nutzlosen Ofen, den sie nie heizten, hätte sie, entgegen Kurts Rat, herausnehmen sollen (Kurts Weltuntergangsphantasien: Wer weiß, kommen schlechte Zeiten, dann braucht man den Ofen nochmal). Und den Dachboden hätte sie gleich mit ausbauen sollen, statt, auf Kurts Drängen, erst einmal eine Pause zu machen: Man kam so schlecht wieder rein.
    Irina wusch die geschälten, aber ungeteilten Kartoffeln (auf ungeteilte Kartoffeln legte sie Wert!), goss das Waschwasser ab, salzte die Kartoffeln und schwenkte sie bei geschlossenem Topf, um das Salz zu verteilen. Dann goss sie vorsichtig eine Tasse Wasser hinzu, wobei sie den Topf schräg hielt, um das Salz nicht wieder abzuspülen. Nur eine Tasse! Kartoffeln, wenn sie nach Kartoffeln schmecken sollten, gehörten gedünstet, nicht gekocht.
    Sie setzte das Kloßwasser auf und begann die anderen, schon gekochten und abgekühlten Kartoffeln für den Kloßteig zu reiben, als die Kinder eintraten.
    – Wir decken den Tisch, sagte die Neue.
    – Wir decken den Tisch, sagte Sascha.
    – Ihr wisst doch gar nicht, wo das Geschirr steht.
    – Ich weiß es, sagte Sascha.
    – Alexander deckt den Tisch, sagte die Neue, und ich kann ja die Klöße formen.
    – Das mach ich selbst, sagte Irina.
    Aber Sascha kramte schon im Besteckkasten, nahm natürlich das falsche Besteck, und als Irina ihm das richtige in die Hand drückte, formte die Neue – mit ihren nicht sonderlich gepflegten Fingernägeln – bereits die Klöße.
    – Aber die Weißbrotwürfel müssen noch rein, sagte Irina.
    – Ich weiß, sagte die Neue. Meine Oma kommt doch aus Thüringen!
    Irina widmete sich notgedrungen ihrem Rettichsalat, häckselte Walnüsse, vermischte alles mit süßer Sahne, schmeckte es ab.
    – Ist schon Salz im Kloßwasser, fragte die Neue.
    Herrje, das hätte sie beinahe vergessen. Und die Gans übergießen, verdammt, sie war vollkommen aus dem Rhythmus!
    Rasch nahm sie die Topflappen, zog die Gans aus der Röhre und kippte die Kasserolle an, um den brodelnden Bratensaft aus der Tiefe zu schöpfen.
    – Die ist ja ganz schwarz, sagte die Neue.
    – Das ist Klostergans, erwiderte Irina.
     
    Tranchiert wurde am Tisch, die Verteilung erfolgte gemäß der jeweils anfallenden Teile: zuerst die Keulen – eine bekam Sascha, so weit war die Sache klar. Die zweite Keule bot sie der Neuen an. Kurt und die beiden älteren Herrschaften aßen sowieso lieber Brustfleisch.
    Die Neue schaute zu Sascha: Ob er denn nichts gesagt habe?
    – Ach ja, sagte Sascha, Melitta ist Vegetarierin.
    – Wie – Vegetarierin?
    – Mama, sie isst kein Fleisch.
    – Aber das ist doch Geflügel, sagte Irina.
    – Ein kleines Stückchen probier ich mal, sagte die Neue. Aber nicht gleich die Keule.
    Irinas Blick machte die Runde – und fiel auf Nadjeshda Iwanowna: Auch du wirst heute Weihnachtsgans essen .
    – Reich mal den Teller, sagte sie.
    Nadjeshda Iwanowna reichte den Teller. Irina gabelte die Keule auf, aber an der Gabel blieb nur ein Stück Kruste hängen. Sie tat Nadjeshda Iwanowna die Kruste auf, um im zweiten Versuch die Keule nachzulegen – aber in diesem Augenblick zog Nadjeshda Iwanowna den Teller weg.
    – Ich habe schon genug!
    Die Keule plumpste aufs Tischtuch.
    – Nu tschjort poderi!
    Fluchen konnte Irina noch immer nur russisch.
    Nadjeshda Iwanowna bekreuzigte sich. Irina knallte ihr die Keule auf den Teller.
    Ein paar Augenblicke herrschte ungewohntes Schweigen am Tisch, bis Charlotte, die sich offenbar durch den Vorfall an die Existenz

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