Ruhe Sanft
jung.
»Ich will eben einen kleinen Spaziergang machen«, sagte Hazel, öffnete einen dunkelblauen Sonnenschirm mit Rüschen, schob die riesigen Sonnenblumen beiseite und tat einen Schritt vom Geländer der Terrasse, auf der sie standen.
»Warten Sie... nein, tun Sie’s nicht«, schrie Wetzon, griff nach ihr, erwischte Hazels schönes weißes Haar, das sich löste und in ihrer Hand blieb. Entsetzt, mit der gelockten weißen Perücke in der Hand, sah sie Hazel still wie Mary Poppins davonschweben und hinter dem glänzenden goldenen Turm des Chrysler-Hauses verschwinden.
Wetzon wachte in panischer Angst auf, in Schweiß gebadet, die Hand in die flauschige blaue Mohairdecke gekrallt, die sie zusätzlich benutzte. Sie zitterte. Es war noch dunkel. Und kalt. Der kleine weiße Digitalwürfel, ihr Radiowecker, zeigte fünf Uhr fünfzehn an.
Sie lag mit geschlossenen Augen da, dachte an Hazel und entspannte sich allmählich. Der Heizkörper in der Küche stotterte. Sie stellte den Wecker ab und schaltete das Licht an.
Ihr Blick fiel auf den roten Umschlag von Ein blendender Spion oben auf dem hohen Bücherstapel auf dem angemalten Waschtisch im Landhausstil, der ihr als Nachttisch diente. Sie hatte ungefähr ein Drittel davon geschafft und es war ziemlich anstrengend. John le Carre war nicht Danielle Steel, Smith’ derzeitige Lieblingsautorin. Aber Wetzon stellte Ansprüche an Literatur und schätzte die intellektuelle Belohnung, wenn einem ein guter Schriftsteller auf halbem Wege entgegenkam.
Es war schon komisch, was die Leute lasen. Silvestri las Biographien, Autobiographien, Kriegsgeschichten — gleich von welchem Krieg — und Western. Carlos las Biographien aus dem Showbusiness und Kriminalromane.
Sie las ungefähr zehn Seiten in Ein blendender Spion und ging ein Stück mit Magnus und Rick, mit Mary und Jack, voller Respekt für die Kunst, mit der le Carre eine Schicht um die andere abschälte. Dann legte sie widerstrebend ein Lesezeichen ein.
Nichts ist, was es zu sein scheint, dachte sie, während sie den Dampf unter der heißen Dusche einatmete, nicht bei le Carre, nicht auf dieser Welt.
Sie rubbelte ihr langes Haar mit dem Frotteehandtuch trocken, ließ es offen hängen, schlüpfte in den Trainingsanzug und sah auf die Uhr. Sechs Uhr. Sie hatte noch eine Stunde oder ein bißchen mehr, wenn sie sich darauf verließ, ein Taxi zum Rockefeller Center zu bekommen.
Nachdem sie Kaffeewasser aufgesetzt hatte, machte sie ein paar einfache Übungen an der Barre, ging langsam die Positionen durch und fühlte sich danach groß und schlank. >Schlank< traf zu, aber >groß< war ein Traum.
Sie entriegelte die Tür und bückte sich, um die Morgenzeitungen von der Matte aufzuheben. Neben der Times und dem Wall Street Journal lag eine gelbe Rose, locker in Zellophan gewickelt und mit einem gelben Band zugebunden. Es war vermutlich nur Werbung vom Zeitungszustelldienst, aber sie freute sich darüber, also war es ein Erfolg, was immer damit bezweckt wurde.
Die gelbe Rose kam in eine schmale Vase, die Wetzon ins Schlafzimmer trug und auf die bemalte Kommode stellte, wo sie sie betrachten konnte, während sie die Nadelstreifenuniform des Tages anzog. Es war zu früh, um Hazel anzurufen. Das mußte bis nach dem Frühstück mit Tormenkov warten.
An der Küchentheke überflog sie bei einem Becher heißen Kaffee die Schlagzeilen. Nichts Ungewöhnliches. Der letzte Insiderskandal, der Dollar war gegenüber dem Yen und der Mark gefallen, die Befürworter des Protektionismus bestanden auf weiteren Sanktionen gegen die Japaner, es ging das Gerücht, daß Texaco ein Kaufangebot erhalten hatte, und irgendein Wall-Street-Guru malte die Zukunft in düsteren Farben und riet, Gold zu kaufen. Sie überflog suchend die Seiten.
In dem mit »Nachrufe« überschriebenen Teil der Times fand sie, wonach sie suchte.
Evelyn M. Cunningham, 72, stirbt
nach Sturz aus dem 20. Stock
Evelyn Morton Cunningham, Dame der Gesellschaft und Witwe des Rechtsanwalts und Präsidentenberaters S. Alden Cunningham, starb am Donnerstag bei einem Sturz von der Terrasse ihrer Wohnung im 20. Stock des Hauses 999 Fifth Avenue. Sie war 72 Jahre alt und bei schlechter Gesundheit.
Nach Auskunft der Polizei glaubt man, daß Mrs. Cunninghams Sturz ein Unfall oder Selbstmord war. Sie befand sich wegen Depressionen und Alzheimerscher Krankheit in ärztlicher Behandlung.
Sie war mit einem dunkelblauen Kleid und hochhackigen Sandaletten bekleidet und verlor vielleicht
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