Ruhe unsanft
Gesicht zu.
»Ihre Stiefmutter? Wie kommen Sie darauf?«
»Sie hieß damals noch Helen Kennedy. Bald danach wurde sie Mrs Halliday.«
»Ach so.« Erskine verstummte. Sein Blick wanderte ü ber den sonnenbeschienenen Rasen, ohne etwas zu s e hen. Die glimmende Zigarette zwischen seinen Fingern blieb unbeachtet. Gwenda spürte trotz seiner äußerlichen Reglosigkeit, welchen Aufruhr sie in seinem Innern en t fesselt hatte.
Endlich sagte er, als beantworte er sich selbst eine Fr a ge: »Es werden die Briefe gewesen sein…«
Gwenda schwieg abwartend.
»Ich habe ihr nicht oft geschrieben«, fuhr er fort. »Zweimal, höchstens dreimal. Sie versprach mir, sie zu vernichten, aber Frauen trennen sich nie von ihren Li e besbriefen, nicht wahr? Und nun sind sie Ihnen zu G e sicht gekommen. Und Sie verlangen eine Erklärung.«
»Eigentlich möchte ich nur etwas mehr über Helen selbst wissen. Ich – ich hing sehr an ihr, obwohl ich noch ein kleines Kind war, als sie – uns verließ.«
»Wieso verließ?«
»Ja, wussten Sie das nicht?«
Erskine sah ihr erstaunt in die Augen.
»Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört«, antwortete er in bestimmtem Ton. »Nie mehr seit – seit jenem Sommer in Dillmouth.«
»Dann wissen Sie auch nicht, wo sie jetzt ist?«
»Wie sollte ich? Es ist Jahre her – viele Jahre. Vorbei und vergessen.«
»Vergessen?«
Er lächelte bitter. »Nein, das wohl nicht. Sie haben ein feines Ohr, Mrs Reed. Bitte, erzählen Sie mir Näheres über Helen. Sie ist doch nicht – gestorben?«
Ein kühler Wind erhob sich plötzlich, strich über ihre Köpfe und legte sich wieder.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Gwenda. »Auf jeden Fall hat sie uns verlassen, und ich weiß nicht das Gering s te von ihr. Darum dachte ich, Sie könnten mir vielleicht helfen.« Da Erskine nur stumm den Kopf schüttelte, fuhr sie fort: »Gerade in jenem Sommer ist sie nämlich aus Dillmouth verschwunden. Ganz plötzlich eines Abends, ohne jede Vorankündigung. Und sie ist nie zurückg e kommen.«
»Und Sie dachten, ich hätte inzwischen etwas von ihr gehört?«
»Ja.«
»Leider nein. Kein Wort. Aber warten Sie: Helens Br u der, der Arzt – wohnt er nicht in Dillmouth? Dann müs s ten Sie doch durch ihn etwas erfahren können. Oder lebt er nicht mehr?«
»Doch, er lebt noch, aber er weiß genauso wenig wie wir. Sehen Sie, alle waren der Ansicht, sie sei nicht allein weggegangen, sondern mit…«
Er sah ihr wieder offen ins Gesicht, mit großen, traur i gen Augen.
»Ach so. Sie dachten – mit mir?«
»Nun ja, immerhin bestand die Möglichkeit.«
»Die Möglichkeit? Wieso denn? Die Geschichte war von vornherein hoffnungslos. Oder waren wir Dum m köpfe, die ihre Chance, glücklich zu sein, verspielten?«
Gwenda sagte nichts. Erskine atmete ein paar Mal tief aus und ein, ehe er, nun gefasster, weitersprach.
»Vielleicht sollten Sie besser Bescheid wissen. Eigen t lich gibt es nicht viel zu erzählen, aber ich möchte nicht, dass Sie Helen falsch beurteilen. Wir trafen uns auf einem Schiff, das nach Indien fuhr. Meine Frau begleitete mich nicht, weil einer der Jungen krank war; nach seiner Gen e sung wollte sie nachkommen. Helen war auf dem Wege zu ihrem Verlobten, der irgendwo auf einer Plantage saß. Sie liebte ihn nicht, aber er war von Kind an ein netter, braver Freund gewesen, und sie wollte von zuhause weg, wo sie nicht glücklich war. Wir verliebten uns ineina n der.«
Er hielt kurz inne.
»So was klingt immer banal, aber in unserem Fall, das möchte ich Ihnen ganz klar sagen, war es nicht der übl i che Reiseflirt. Es war uns sehr ernst. Wir waren beide bis ins Tiefste erschüttert. Und wir wussten beide, dass uns nicht zu helfen war. Ich konnte meine Frau und die Ki n der nicht im Stich lassen. Helen sah es wie ich. Hätte es sich um Janet allein gehandelt – aber die Kinder waren eben auch da. Ein hoffnungsloser Fall. Helen und ich kamen überein, uns Lebewohl zu sagen und zu verge s sen.«
Er lachte kurz und unfroh auf.
»Vergessen! Ich habe sie nie vergessen, nicht eine S e kunde lang. Das Leben war für mich seitdem eine Hölle. Ich konnte die Erinnerung nicht abschütteln. Und Helen? Nun, zunächst musste der junge Mann, dem sie die Ehe versprochen hatte, eine Enttäuschung erleben. Sie konnte sich nicht mehr überwinden, ihn zu heiraten, und fuhr nach England zurück. Bei dieser Heimreise lernte sie Ha l liday kennen – Ihren Vater also, wie ich mir jetzt zusa m menreimen kann. Sie schrieb
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