Ruhe unsanft
es mir einige Monate später. Er sei noch sehr in Trauer um seine tote Frau und ratlos wegen seiner kleinen Tochter gewesen, und sie sähe nun eine Art Lebensaufgabe darin, die beiden glücklich zu machen. Diesen Brief schrieb sie mir von Dillmouth aus. Wieder ein paar Monate später starb mein Vater. Er hi n terließ mir das Haus hier, und ich kehrte deshalb mit meiner Familie aus Indien zurück. Bevor wir einziehen konnten, waren jedoch noch einige Reparaturen nötig, und wir entschlossen uns, solange Ferien zu machen. Irgendjemand hatte meiner Frau Dillmouth als hübschen, ruhigen Badeort empfohlen, und natürlich ahnte sie nichts von Helens Existenz. Können Sie sich vorstellen, welche Versuchung es für mich war? Helen wiederzus e hen, mit eigenen Augen zu sehen, wie der Mann war, den sie geheiratet hatte.«
Wieder entstand eine kurze Pause. Dann erzählte Erskine weiter:
»Wir fuhren also nach Dillmouth und wohnten im ›Royal Clarence‹. Es war ein Fehler. Das Wiedersehen mit Helen war eine Qual für mich. Was sie betraf, so weiß ich nicht, ob und was sie noch für mich empfand. Sie schien in ihrem neuen Leben ganz glücklich und zufrieden. Da sie jedes Alleinsein mit mir vermied, konnte ich sie nicht fragen. Vielleicht war sie darüber hinweg. Nur meine Frau merkte etwas, fürchte ich. Sie – sie ist sehr eifersüchtig, war es immer. Und das ist alles«, schloss Erskine brüsk. »Wir reisten von Dillmouth ab…«
»Am 17. August«, sagte Gwenda.
»Ja? Möglich. Ich weiß das Datum nicht mehr genau.«
»Es war ein Samstag.«
»Ja – ja, das stimmt. Janet meinte, am Wochenende würden die Straßen nach Norden überfüllt sein, aber ich glaube, es war dann gar nicht so schlimm.«
»Bitte, versuchen Sie sich ganz genau zu erinnern, M a jor Erskine. Wann haben Sie meine Stiefmutter – Helen – zum letzten Mal gesehen?«
Er lächelte müde und traurig.
»Da brauche ich mich nicht besonders anzustrengen. Es war am Abend vor unserer Abreise. Unten am Strand. Ich schlenderte nach dem Essen allein hinunter – und da traf ich sie. Sonst war niemand da. Ich begleitete sie nachha u se. Wir gingen durch den Garten…«
»Um wie viel Uhr?«
»Ich weiß es nicht mehr. Wohl so gegen neun.«
»Und Sie sagten sich Lebewohl?«
»Wir sagten uns Lebewohl.« Wieder lachte er kurz auf. »Oh, nicht so rührselig, wie Sie vielleicht denken. Der Abschied war kurz, beinahe schroff. Helen sagte: ›Bitte geh jetzt! Sofort! Ich möchte nicht…‹ Damit kehrte sie mir den Rücken, und ich – ich ging.«
»Zurück ins Hotel?«
»Ja, irgendwann. Ich machte einen weiten Spaziergang.«
»Nach so langer Zeit sind Daten schwer zu rekonstrui e ren«, sagte Gwenda. »Soviel ich weiß, ist Helen an eben diesem Abend aus dem Hause gegangen – und nie z u rückgekehrt.«
»Aha! Und da meine Frau und ich am nächsten Tag a b gereist waren, hieß es sofort, Helen sei mit mir ve r schwunden. Eine blühende Fantasie haben die Leute!«
»Es war also nicht so?«, fragte Gwenda ohne U m schweife.
»Mein Gott, von so etwas war nie die Rede.«
»Warum nehmen Sie dann an«, fragte Gwenda, »dass sie fortgegangen ist?«
Erskine runzelte die Stirn. Sein Verhalten änderte sich, er wurde interessiert.
»Ah, ich verstehe«, sagte er. »Wirklich, dieser Punkt ist etwas rätselhaft. Hat sie – äh – keine Erklärung zurückg e lassen?«
Gwenda überlegte kurz und meinte: »Ich persönlich glaube, sie hat keine Nachricht hinterlassen. Halten Sie es für möglich, dass sie mit einem anderen Mann durchg e brannt ist?«
»Selbstverständlich nicht!«
»Sie scheinen sehr sicher zu sein.«
»Das bin ich auch.«
»Warum hat sie uns dann verlassen?«
»Wenn sie es so plötzlich, so überstürzt getan hat – dann kann ich mir eigentlich nur einen Grund denken. Es war eine Flucht vor mir:«
»Vor Ihnen?«
»Ja. Vielleicht hatte sie Angst, ich würde versuchen, sie doch wiederzusehen, sie zu bedrängen. Sie hat natürlich gemerkt, dass meine Leidenschaft sich keineswegs abg e kühlt hatte. Ja, das kann der Grund gewesen sein.«
»Er erklärt aber nicht, warum sie nie zurückgekommen ist«, sagte Gwenda. »Hat Helen Ihnen gegenüber irgen d eine Andeutung gemacht, dass sie… um meinen Vater besorgt war? Oder Angst vor ihm hatte?«
»Angst? Vor ihm? Warum denn das? Oh, ich verstehe, Sie meinen, vor einem möglichen Eifersuchtsanfall. Nei g te Ihr Vater zur Eifersucht?«
»Ich weiß es nicht. Er starb, als ich noch ein Kind
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