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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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da«, sagte ich und zeigte mit dem Glas auf Hamid.
    »Schade«, sagte er und ging.
    Ich trug mein Haar offen, dazu neue, gerade geschnittene Jeans und ein ultramarinblaues T-Shirt mit Puffärmeln und V-Ausschnitt, das einen ziemlich tiefen Einblick erlaubte. Außerdem hatte ich meine Stiefel mit Absatz an und kam mir groß und sexy vor. Ich selbst wäre ohne weiteres auf mich abgefahren … Ein Weilchen wärmte ich mich an dieser Vorstellung, dann rief ich mir mahnend ins Gedächtnis, dass mein fünfjähriger Sohn bei seiner Großmutter übernachtete und ich nicht verkatert sein wollte, wenn ich ihn abholen fuhr. Ein weiterer Drink kam also nicht in Frage.
    Hamid gesellte sich zu mir an die Bar. Zu seiner neuen Lederjacke trug er ein kornblumenblaues Hemd. Ich legte ihm den Arm um die Schulter.
    »Hamid!«, rief ich mit scherzhafter Empörung. »Ich kann nicht glauben, dass Sie uns verlassen. Was sollen wir ohne Sie anfangen?«
    »Ich kann auch nicht.«
    »Kann’s auch nicht.«
    »Kann’s auch nicht. Ich bin sehr traurig, wissen Sie? Ich hatte gehofft, dass …«
    »Womit hat man Sie aufgezogen?«
    »Oh – mit den indonesischen Mädchen. Sehr naheliegend.«
    »Ja, sehr naheliegend. Bei Männern sehr naheliegend.«
    »Möchten Sie noch einen Drink, Ruth?«
    »Gern. Noch einmal Wodka Tonic.«
    Wir setzten uns auf die Barhocker und warteten auf die Drinks. Hamid hatte Bitter Lemon bestellt – und mir fiel plötzlich ein, dass er keinen Alkohol trank; schließlich war er Moslem.
    »Sie werden mir fehlen, Ruth«, sagte er. »Unsere Stunden – ich kann nicht glauben, dass ich am Montag nicht mehr zu Ihnen komme. Das waren drei Monate, Sie wissen ja: zwei Stunden, fünfmal die Woche. Ich habe nachgezählt: Das sind über dreihundert Stunden, die wir zusammen verbracht haben.«
    »Teufel noch mal«, sagte ich mit einer gewissen Aufrichtigkeit. Ich bremste mich und erklärte: »Aber denken Sie daran, Sie hatten noch drei andere Lehrer. Sie haben genauso viel Zeit verbracht mit Oliver«, ich zeigte auf ihn, »mit Pauline und, wie heißt er gleich, da drüben bei der Jukebox?«
    »Klar, das stimmt schon«, sagte Hamid und wirkte ein bisschen gekränkt. »Aber das war nicht dasselbe, Ruth. Das mit Ihnen war anders, glaube ich.« Er griff nach meiner Hand. »Ruth …«
    »Ich muss mal kurz für Mädchen. Bin gleich zurück.«
    Der letzte Wodka hatte mich voll erwischt, ich kippte aus dem Gleitflug ab und schlitterte einen Hang aus Schotter und Geröll hinab. Mein Kopf war klar, er funktionierte noch, aber alles um mich herum geriet aus den Fugen, senkrecht und waagerecht waren nicht mehr so sauber definiert, und merkwürdigerweise bewegten sich meine Füße schneller, als sie mussten. Mit Karacho schoss ich auf den Korridor hinaus, der zu den Toiletten führte. Dort hingen ein Telefon- und ein Zigarettenautomat. Plötzlich fiel mir ein, dass meine Schachtel fast leer war, ich blieb stehen und kramte nach Münzen, bis ich merkte, dass der Druck auf meiner Blase stärker war als meine Gier nach Nikotin.
    Ich ging auf die Toilette und ließ es laufen, was mich ungeheuer erleichterte. Zum Händewaschen stellte ich mich vor den Spiegel, blickte mir für ein paar Sekunden tief in die Augen und strich meine Frisur zurecht.
    »Du bist besoffen, du blöde Kuh«, zischte ich leise, aber hörbar durch die Zähne. »Ab nach Hause!«
    Ich ging hinaus auf den Korridor, und dort stand Hamid und tat so, als wollte er telefonieren. Die anschwellende Musik aus dem Pub – »I heard it on the Grapevine« – wirkte beinahe wie ein Pawlow’scher Reflex auf mich, und irgendwie, nach einer kurzen Lücke im Raum-Zeit-Kontinuum, fand ich mich in Hamids Armen wieder und küsste ihn.
    Sein Bart war weich, gar nicht kratzig und stachlig, und ich schob ihm die Zunge tief in den Mund. Plötzlich wollte ich Sex – ich war so ausgehungert –, Hamid kam mir vor wie der perfekte Mann. Meine Arme umschlangen ihn, hielten ihn fest, sein Körper fühlte sich unglaublich stark und hart an, als würde ich einen Mann aus Beton umarmen. Und ich dachte: Ja, Ruth, das ist der Mann für dich, du Dummkopf, du Idiotin – er ist gut, anständig, nett, mit Jochen befreundet –, ich will diesen Ingenieur mit den sanften braunen Augen, diesen starken, harten Mann.
    Wir lösten uns voneinander, damit verlor der Traum, der Wunsch zwangsläufig seine Kraft, und ich fand wieder ein wenig zu mir zurück.
    »Ruth …«, begann er.
    »Nein, sag nichts.«
    »Ruth, ich liebe

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