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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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Umschlag mit fünf Zwanzigdollarscheinen auf ihrem Schreibtisch. Sie empfand einen seltsamen Ansturm von Gefühlen: Dankbarkeit, Erleichterung, Scham, Trost, Demut. Traue niemandem, dachte sie – außer den Witoldskis und den Comeaus dieser Welt.
    Bis zum 18. Januar wechselte sie noch zweimal das Hotel, sie holte das Ticket und ihre Papiere in der Reiseabteilung des Ministeriums ab – beides lautete nun auf den Namen »Mary Atterdine«, und erst jetzt wagte sie es wieder, an die Zukunft zu denken und Pläne zu schmieden: was sie nach der Überfahrt tun würde, wohin sie sich wenden würde, welche Tarnung sie annehmen, was sie unternehmen würde. England – London – konnte sie kaum als ihre Heimat bezeichnen, aber wohin sonst sollte sie gehen? Ihre andere Identität als »Lily Fitzroy« erwartete sie in Battersea. Dass sie nach Frankreich fuhr, um ihren Vater und ihre Stiefmutter zu suchen, war nicht denkbar, was immer aus ihnen geworden war. Erst musste der Krieg zu Ende gehen, und dafür gab es keine Anzeichen. Nein, London und Lily Fitzroy waren ihre einzige Alternative – bis auf weiteres zumindest.

12
SAVAK
    Hugues bot mir einen weiteren Drink an – ich wusste, dass ich ab lehnen musste (ich hatte schon zu viel getrunken), sagte natürlich trotzdem ja und folgte ihm an den von Pfützen und Zigarettenasche übersäten Tresen des Captain Bligh.
    »Kann ich bitte auch Erdnüsse haben?«, fragte ich fröhlich den mürrischen Barmann. Ich war zu spät gekommen und hatte das kalte Buffet im Obergeschoss verpasst – die Baguettescheiben mit Käse, die Wurströllchen, schottischen Eier und Schweinspastetchen – alles Kohlehydrate, die ein gutes Fundament für die Drinks gebildet hätten. Es gab keine Erdnüsse, wie sich herausstellte, aber sie hatten Chips – wenn auch nur die mit Salz und Essig. Dann eben Chips mit Salz und Essig, sagte ich, und plötzlich bekam ich einen richtigen Heißhunger auf Salziges und Saures. Das war nach meinem fünften Wodka Tonic, und ich wusste schon, dass ich nicht mehr nach Hause fahren konnte.
    Hugues überreichte mir den Drink und dann – mit spitzen Fingern – die Tüte mit den Chips. »Santé«, sagte er.
    »Cheers.«
    Bérangère schob sich von hinten heran und hakte sich bei ihm ein, ziemlich besitzergreifend, wie ich fand. Mir lächelte sie zu. Ich hatte gerade den Mund voller Chips, also konnte ich nicht sprechen: Für das Captain Bligh und die Cowley Road sah die gute Bérangère einfach zu exotisch aus, und ich sah ihr an, dass sie schleunigst von dort wegwollte.
    »On s’en va?«, flehte sie Hugues an. Hugues wandte sich zu ihr, sie tuschelten. Ich hatte meine Tüte schon leer gegessen – in etwa drei Sekunden, wie mir schien – und ging auf Abstand. Hamid hatte recht, sie waren ein Paar geworden. Hugues und Bérangère, P’TIT PRIX und Fourrures de Monte Carlo – und das unter meinem Dach.
    Ich lehnte mich an den Tresen, schlürfte meinen Drink und schaute mich im verräucherten Pub um. Ich fühlte mich prächtig und war an dem Punkt angelangt – auf der Kippe, in der Schwebe –, wo man noch entscheiden kann, ob man aufhört oder weitertrinkt. In meinem Cockpit blinkten die roten Warnlichter, aber das Flugzeug war noch nicht im tödlichen Sturzflug. Ich sah mir die Leute an: So gut wie alle hatten sich vom Bankettraum nach unten begeben, als das kalte Buffet und die Gratis-Drinks (Flaschenbier und Billigwein) abgeräumt waren. Alle vier Tutoren von Hamid waren gekommen und auch die anderen Studenten, die bei ihnen Unterricht hatten – einschließlich der kleinen Dusendorf-Truppe, die dieses Jahr vor allem aus Iranern und Ägyptern bestand, wie sich zeigte. Es herrschte eine lautstarke, aufgeladene Atmosphäre, besonders im Umkreis von Hamid, der sich einigen Spott über seine bevorstehende Abreise nach Indonesien anhören musste, was er aber mit Fassung trug – resigniert lächelnd, fast schüchtern.
    »Hi, darf ich Sie zu einem Drink einladen?«
    Ich drehte mich um und stand vor einem großen, schlanken Mann mit ausgeblichenen Jeans und gebatiktem T-Shirt, langem dunklem Haar und Schnurrbart. Er hatte blassblaue Augen und sah, soweit ich es in meinem Zustand – auf der Kippe und noch unentschieden, wohin die Reise ging – beurteilen konnte, unverschämt gut aus. Ich hob meinen Wodka Tonic, um ihm zu demonstrieren, dass ich versorgt war.
    »Danke, kein Bedarf.«
    »Nehmen Sie noch einen. In zehn Minuten schließt die Bar.«
    »Ich bin mit einem Freund

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