Ruhelos
gerechnet. Also hatte sich nichts wirklich verändert – außer dass sie jetzt über den Tod von Angus und Sylvia im Bilde war. Sie dachte an die beiden, an die Jahre, die sie miteinander verbracht hatten, und mit Bitterkeit rief sie sich den Schwur ins Gedächtnis, mit dem sie in Kanada ihre Entschlossenheit gestärkt hatte. Sie kaufte eine Abendzeitung, um die Berichte über die neuesten Luftangriffe und die Opferzahlen zu lesen.
Der Konvoi war wie geplant am 18. Januar 1942 von St. John, New Brunswick, gestartet. Die Überfahrt gestaltete sich stürmisch, verlief aber abgesehen vom schlechten Wetter ereignislos. Es gab zwanzig Passagiere auf dem ehemals belgischen Frachtschiff – der SS Brazzaville –, die Flugzeugmotoren und Stahlträger trans portierte: fünf Sekretärinnen von der Regierung in Ottawa, die an die Londoner Botschaft versetzt waren, ein halbes Dutzend Offiziere vom Royal Regiment of Canada und diverses diplomatisches Personal. Die unruhige See verbannte die meisten Passagiere in ihre Kabinen. Eva teilte die ihre mit einer auffallend großen jungen Frau vom Bergbauministerium, die Cecily Fontaine hieß und, wie sich herausstellte, jede halbe Stunde erbrechen musste. Tagsüber hielt sich Eva meist im engen »Salon« auf und versuchte zu lesen, und für drei Nächte gelang es ihr, eins der zwei Betten in der Krankenstation der Brazzaville zu beanspruchen, bis sie durch einen Heizer mit Blinddarmreizung vertrieben wurde – zurück in die Kabine zu Cecily Fontaine. Von Zeit zu Zeit wagte sich Eva an Deck, um in den grauen Himmel zu blicken, auf das graue, aufgewühlte Wasser und die grauen Schiffe, die sich mit qualmenden Schornsteinen durch die Dünung arbeiteten, mit stoßenden, ruckenden Bewegungen auf die Britischen Inseln zusteuerten und immer wieder in Explosionen winterlicher Gischt verschwanden.
Am ersten Tag auf See wurde das Anlegen der Rettungswesten geübt, und Eva hoffte, niemals in die Lage zu geraten, ihr Leben diesen zwei korkgefüllten Leinwandkissen anvertrauen zu müssen. Die paar von der Seekrankheit verschont Gebliebenen versammelten sich dreimal täglich unter den nackten Glühbirnen der Messe, um die grauenhafte Büchsennahrung zu verzehren. Eva staunte über ihre robuste Natur: Nach vier Tagen auf See erschienen nur noch drei von ihnen zum Essen. Eines Nachts riss ein ungewöhnlich großer Brecher ein Rettungsboot der Brazzaville aus der Halterung, und es erwies sich als unmöglich, das Boot an seinen Platz zurückzuhieven. Die Brazzaville fiel im Konvoi zurück, weil das Boot die Fahrt behinderte – bis es nach wütendem Signalverkehr zwischen den begleitenden Zerstörern aus dem Konvoi entlassen wurde und seinen Weg über den Atlantik allein fortsetzte. Eva kam der Gedanke, ob dieses unbemannte Rettungsboot, wenn es irgendwo gefunden wurde, nicht zu der Annahme führen würde, dass das Mutterschiff gesunken war. Vielleicht winkte ihr da das kleine bisschen Glück, nach dem sie Ausschau hielt? Ihre Hoffnungen setzte sie allerdings nicht darauf.
Nach acht Tagen, kurz vor Sonnenuntergang, erreichten sie Gourock, und im schwefligen Abendlicht sahen sie sich umgeben von einem Friedhof aus gesunkenen, gekenterten, beschädigten Schiffen mit schief aufragenden Masten und fehlenden Schornsteinen – düsteres Zeugnis eines U-Boot-Angriffs, dem sie knapp entkommen waren. Eva ging mit ihren bleichen, zittrigen Kolleginnen von Bord, und zusammen fuhren sie mit dem Bus zum Hauptbahnhof von Glasgow. Sie war versucht, sich schon jetzt aus dem Staub zu machen, überlegte sich dann aber, dass ein diskreter Abgang während der nächtlichen Fahrt nach London zweckmäßiger war. Also verließ sie, unbemerkt von ihren schlafenden Kolleginnen, den Liegewagen in Peterborough, nachdem sie Cecily Fontaine eine sorgsam vorbereitete Nachricht hingelegt hatte, sie wolle eine Tante in Hull besuchen und werde sich ihnen in London wieder anschließen. In den nächsten zwei Tagen, so ihre Kalkulation, würde man kaum nach ihr suchen, daher nahm sie den nächsten Zug nach London und fuhr auf kürzestem Wege weiter zu Mrs Dangerfield nach Battersea.
Den Pass auf Margery Atterdine verbrannte sie Blatt um Blatt und verstreute die Asche an verschiedenen Stellen in Battersea. Jetzt war sie Lily Fitzroy, wenigstens vorübergehend, und besaß alles in allem fast vierunddreißig Pfund, nachdem sie die restlichen kanadischen Dollars umgetauscht und zu dem Geld hinzugefügt hatte, das unter den Dielen
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