Ruhelos
Lauf – noch nie in ihrem Leben war sie so einsam gewesen, und kein Mensch auf der ganzen Welt wusste, wo sie war. Sie musste an ihren Vater denken, einen alten, kranken Mann, der in Bordeaux wohnte, und ihr fiel ein, mit welchem Eifer er sie ermutigt hatte, auf Romers Angebot einzugehen. Wer hätte gedacht, dass es einmal so enden würde? Allein in einem Hotelzimmer in Ottawa … Schluss jetzt, kein Selbstmitleid, ermahnte sie sich und wischte sich die Augen trocken. Sie verfluchte Romer für seine Grausamkeit und seinen Verrat. Dann schlief sie ein, für eine Stunde etwa, und wachte gestärkt wieder auf: entschiedener, gefasster, nüchterner. Sie hatte ein Ziel, eine Aufgabe: Romers finstere Machenschaften zu durchkreuzen. Und in ihrer Einsamkeit fragte sie sich, ob er sie von Anfang an manipuliert hatte, seit ihrer Rekrutierung, ob er ihre Gewohnheiten, ihre Wesensart, ihre speziellen Fähigkeiten studiert und sie für seine Zwecke abgerichtet hatte. Waren ihre Einsätze in Prenslo und Washington nur Testläufe gewesen? Vorbereitungen für den Tag X, an dem er auf ganz besondere Weise von ihr Gebrauch machen konnte? Das war alles Unsinn, sie wusste es, und wenn sie nicht schleunigst damit aufhörte, würde sie verrückt werden. Die simple Tatsache, dass er keinen Zugriff auf sie hatte, war ihr entscheidender Trumpf, ihr kleines Stückchen Macht. Solange Eva Delektorskaja verschwunden blieb, würde Lucas Romer keine Ruhe finden.
Und dann fragte sie sich, ob sie von jetzt an so weiterleben würde: voller Angst und Heimlichkeit, immer auf der Hut, immer misstrauisch, rast- und ruhelos. Aber darüber wollte sie sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Hör auf damit, sagte sie sich, immer einen Schritt nach dem anderen. Erst muss ich nach Hause kommen, dann sehen wir weiter.
Am 27. Dezember ging sie wieder zur Arbeit, doch der nächste Feiertag lauerte schon auf sie: Neujahr. Aber da sie Weihnachten überlebt hatte, war sie sicher, auch mit dem Anbruch des Jahres 1942 fertig zu werden. Die deutschen Verbände zogen sich von Moskau zurück, aber die Japaner hatten Hongkong eingenommen; und so würde es weitergehen, dachte sie, auf lange Sicht. Sie kaufte sich eine Flasche Whisky und stellte am Morgen des 1. Januar fest, dass sie sich über Nacht einen veritablen Kater angetrunken hatte. Das Jahr begann mit hartnäckigen Kopfschmerzen, die den ganzen Tag anhielten – aber noch etwas anderes bereitete ihr Kopfzerbrechen, etwas, was sich nicht umgehen ließ.
An ihrem zweiten Arbeitstag, kurz vor Büroschluss, ersuchte sie um ein Gespräch mit Mr Comeau. Er hatte Zeit für sie, sie klopfte an und wurde hereingerufen. Comeau war sichtlich erfreut – nachdem sie seine Einladung ausgeschlagen hatte, war er auf Distanz geblieben, aber jetzt kam er hinter seinem Schreibtisch hervor, zog einen Stuhl für sie heran und setzte sich, verwegen mit dem Bein schaukelnd, auf die Schreibtischkante; unglücklicherweise schaute ein Stück haarige Wade unter dem Hosenaufschlag hervor. Er bot ihr eine Zigarette an, es folgte die Zeremonie des Feuergebens, bei der Eva darauf achtete, seine Hand nicht zu berühren, als er ihr mit zitternden Fingern die Flamme darbot.
»Haben Sie sich’s noch einmal überlegt, Miss Atterdine?«, fragte er. »Oder wäre das zu viel der Hoffnung?«
»Ich muss Sie fragen, ob Sie mir hundert Dollar leihen können.« Unvorhergesehene Kosten, erklärte sie; sie könne nicht bis zu ihrem ersten Gehalt in England warten.
»Gehen Sie zu Ihrer Bank«, erwiderte er ein wenig steif. »Ich bin sicher, die wird Ihnen helfen.« Er war gekränkt.
»Ich habe kein Bankkonto«, sagte sie. »Die Summe zahle ich Ihnen von England aus zurück. Es ist nur so, dass ich das Geld hier brauche, bevor ich abreise.«
»Stecken Sie in einer Art Patsche, wie man so sagt?« Der Zynismus stand ihm nicht, und sie sah, dass er es spürte.
»Nein. Ich brauche nur das Geld. Dringend.«
»Das ist eine beträchtliche Summe. Glauben Sie nicht, dass ich dafür eine Erklärung verdiene?«
»Ich kann es Ihnen nicht erklären.«
Sein Blick bohrte sich in sie, und sie wusste, was er damit sagen wollte: Es gibt eine einfachere Lösung; bleiben Sie in Ottawa, lernen Sie mich kennen, wir sind beide einsam. Aber ihre Augen gaben ihm keine tröstliche Antwort.
»Ich werde darüber nachdenken.« Er stand auf, knöpfte die Jacke zu und war wieder der Staatsbeamte, konfrontiert mit einer widerspenstigen Angestellten.
Am nächsten Morgen lag ein
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