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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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schaute aus dem Fenster zu den Häusern auf der anderen Seite hinüber. Ob sich dort schon ein BSC-Kommando eingenistet hatte, das sie belauerte? Sie stellte die Tasche neben die Tür. Wie leicht diese Tasche ist, dachte sie, wie wenig Besitztümer ich habe. In dieser Nacht fand sie keinen Schlaf mehr.
    Am Morgen erzählte sie Mr und Mrs Richmond, sie müsse sofort abreisen, zurück nach Vancouver – familiäre Gründe. Das tue ihnen sehr leid, aber sie müsse verstehen, dass ihr bei so kurzfristiger Abreise die für einen Monat im Voraus entrichtete Miete nicht erstattet werden könne. Eva sagte, das verstehe sie vollkommen, und entschuldigte sich für alle Unannehmlichkeiten.
    »Noch etwas«, sagte sie und blieb im Hinausgehen stehen. »Hat jemand eine Nachricht für mich hinterlassen?«
    Die Richmonds wechselten einen Blick, berieten sich stumm, dann sagte Mrs Richmond: »Nein, ich glaube nicht. Nein, Miss.«
    »Und niemand hat nach mir gefragt?«
    Mr Richmond schmunzelte. »Wir hatten gestern einen jungen Mann hier, der wollte ein Zimmer mieten. Wir sagten ihm, wir vermieten nur an Ladys – er schien sehr überrascht.«
    Eva überlegte. Wahrscheinlich nur ein Zufall, aber plötzlich hatte sie es eilig, aus der Bradley Street zu verschwinden.
    »Wenn sich jemand erkundigt, sagen Sie, ich bin zurück nach Vancouver.«
    »Natürlich, Miss. Und alles Gute. Wir haben uns gefreut, Sie zu beherbergen.«
    Eva verließ das Haus, wandte sich nach links statt wie sonst nach rechts und lief auf Umwegen zu einer anderen Bushaltestelle.
    Sie bezog das Franklin Hotel in der Bank Street, eins der größten Etablissements der Stadt, funktional und bescheiden, mit über dreihundert Zimmern, »absolut feuersicher, sämtlich mit Dusche und Telefon«, aber ohne Restaurant oder Coffee-Shop. Doch obwohl sie sich mit einem Einzelzimmer für drei Dollar pro Nacht begnügte, würde ihr Geld nicht reichen, wie sie feststellte. Sicher gab es billigere und noch schlichtere Unterkünfte in der Stadt, aber sie brauchte die Sicherheit und Anonymität eines großen, zentral gelegenen Hotels. Bis zur Abreise nach Großbritannien musste sie noch etwas mehr als drei Wochen durchhalten – am besten, sie vergrub sich irgendwie.
    Ihr Zimmer in der siebenten Etage war klein und einfach, durch eine Lücke zwischen den gegenüberliegenden Gebäuden konnte sie die Grünflächen des Ausstellungsgeländes mit einer Windung des Rideau River sehen. Sie packte aus und hängte ihre paar Sachen in die Garderobe. Wenigstens den Vorteil hatte ihr Umzug, dass sie zu Fuß zur Arbeit gehen und das Fahrgeld sparen konnte.
    Aber sie blieb im Zweifel, ob ihr Schritt richtig war, ob sie nicht überreagiert hatte und ob der überstürzte Wegzug von den Richmonds nicht ebenfalls Aufmerksamkeit erregte …
    Ein fremdes Auto in einer Vorstadtstraße – was war Besonderes daran? Aber dann machte sie sich klar, dass sie die Bradley Street und die Richmond-Pension nur deshalb ausgesucht hatte, weil dort alles Ungewöhnliche sofort auffiel. Jeder kannte jeden in der Bradley Street und wusste, was er trieb – so eine Gegend war das. Und wer war der junge Mann, der die Aufschrift »Ladies only« auf dem Pensionsschild übersehen hatte? Ein unachtsamer Reisender? Kein Polizist jedenfalls, denn ein Polizist hätte sich einfach ausgewiesen und das Meldebuch verlangt. Also jemand von der BSC mit dem Auftrag, die Hotels und Pensionen in Ottawa abzusuchen? Aber warum Ottawa, warum nicht Toronto? Wie konnte jemand erraten oder kombiniert haben, dass sie nach Ottawa gegangen war? Die Überlegungen arbeiteten in ihr, quälten sie, zerrten an ihren Nerven. Sie ging zur Arbeit wie immer, tippte ihre Briefe und Dokumente im Schreibbüro und kehrte abends in ihr Zimmer zurück. Selten hielt sie sich in der Stadt auf. Sie besorgte sich ihre Sandwiches auf dem Heimweg und blieb im Zimmer mit Blick auf das Ausstellungsgelände und den Rideau River, hörte Radio, wartete, dass es Weihnachten wurde und das Jahr 1942 begann.
    Die Büros des Beschaffungsministeriums schlossen am Heiligabend, und die Arbeit ruhte bis zum 27. Dezember. Sie entschied sich, der Belegschaftsfeier fernzubleiben. Am Weihnachtsfeiertag schlüpfte sie früh aus dem Hotel, besorgte sich etwas Truthahnbraten, einen Brotlaib, Butter und zwei Flaschen Bier. Sie setzte sich aufs Bett, aß ihre Brote, trank Bier dazu, hörte Radiomusik und schaffte es, eine Stunde nicht zu weinen. Dann ließ sie den Tränen zehn Minuten freien

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