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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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nach der »Entwarnung« in die Morgendämmerung hinaus, mit nichts auf dem Leib als dem Pyjama und dem Schlafrock, und stellte fest, dass alles, was man besessen hatte, zu Schutt und Asche geworden war. Die Leute mussten ganz von vorn anfangen, fast so, als wären sie neu geboren: Alle Papiere und Identitätsbeweise, Kleidung und Unterkunft mussten neu beschafft werden. Der Blitzkrieg vom September 1940 und die nachfolgenden Luftangriffe zogen sich nun schon über ein Jahr hin, mit Tausenden und Abertausenden von Toten und Vermissten. Sie wusste, dass Schwarzhändler die Lage ausnutzten und Tote eine Weile »weiterleben« ließen, um ihre Rationen und Benzinmarken zu erbeuten. Vielleicht fand sich da ein Schlupfloch für sie. Also durchforschte sie die Zeitungen nach Berichten über die schlimmsten Angriffe mit den höchsten Opferzahlen – vierzig, fünfzig, sechzig Personen getötet oder vermisst. Einen oder zwei Tage später standen die Namen in der Zeitung, manchmal wurden auch die Fotos gedruckt. Sie machte sich auf die Suche nach einer vermissten Frau ihres Alters.
    Zwei Tage nach dem Treffen mit Blytheswood gab es einen Großangriff auf die Docks von East End. Sie ging mit Mrs Dangerfield in den Gartenbunker und wartete den Angriff ab. In klaren Nächten kamen die Flugzeuge oft von der Themsemündung her und folgten dem gewundenen Flusslauf – auf der Suche nach dem Kraftwerk in Battersea und in der Lots Road in Chelsea, um dann ihre Bomben irgendwo in der Umgebung abzuwerfen. Die Wohnviertel von Battersea und Chelsea bekamen daher mehr ab, als man erwartet hatte.
    Am nächsten Morgen hörte sie in den Nachrichten von den Angriffen auf Rotherhithe und Deptford – Straßenzüge ausradiert, eine komplette Siedlung evakuiert, ganze Wohnblöcke ausgebrannt und zerstört. Die Abendzeitungen brachten Einzelheiten, eine Übersichtskarte zeigte die schwersten Zerstörungen an, dazu kamen erste Listen von Toten und Vermissten. Sie wusste, es war makaber, aber sie suchte nach kompletten Familien, Gruppen von vier oder fünf Personen mit demselben Namen. Dann las sie von einer Sozialsiedlung in Deptford – drei Wohnblöcke total zerstört, einer mit Volltreffer – Carlisle House – und, wie zu befürchten stand, siebenundachtzig Todesopfern. Die Familie West, drei Personen; die Findlays, vier Personen, zwei davon kleine Kinder; und am schlimmsten hatte es die Fairchilds mit ihren fünf Kindern getroffen: Sally (24), Elizabeth (18), Cedric (12), Lucy (10) und Agnes (6). Alle vermisst, alle vermutlich unter den Trümmern begraben, kaum Hoffnung auf Überlebende.
    Am nächsten Tag fuhr Eva mit dem Bus nach Deptford und machte sich auf die Suche nach Carlisle House. Sie fand die übliche Mondlandschaft aus rauchenden Trümmern: Berge von Ziegelschutt, schwankende Mauerreste, freigelegte Zimmerwände, zwischen dem Geröll noch die bleichen, zuckenden Flammen der Gasleitungen. Die Ruine war von Holzbarrieren umgeben, Polizisten und Luftschutzhelfer standen Wache. An den Barrieren sammelten sich verloren dreinblickende Menschen, die sich über die Sinnlosigkeit, den Irrsinn, das Leid, die Tragöde austauschten. In einem nahen Hauseingang holte Eva ihren Pass heraus und lief an der Absperrung entlang, bis sie, weit von den Leuten entfernt, zu einer brennenden Gasleitung kam. Es wurde schon dunkel an diesem Winterabend, und die blassen Flammen gewannen an Leuchtkraft und Farbe. Da die Dunkelheit einen neuen Angriff erwarten ließ, entfernten sich allmählich die Grüppchen der Nachbarn, Überlebenden und Neugierigen. Als sie sicher war, dass niemand zusah, warf sie ihren Pass beherzt in die Flammen. Sie sah ein kurzes Auflodern, dann schrumpfte er zusammen und verschwand. Sie drehte sich weg und ging schnell davon.
    Wieder in Battersea, eröffnete sie Mrs Dangerfield mit einem koketten Seufzer, sie sei erneut versetzt worden – »Schottland mal wieder« – und müsse noch am Abend abreisen. Sie zahlte ihre zwei Monatsmieten im Voraus und nahm leichten Herzens ihren Abschied. Wenigstens sind Sie weit weg von diesen Luftangriffen, bemerkte Mrs Dangerfield nicht ohne Neid und küsste sie zum Abschied auf die Wange. Ich rufe an, bevor ich zurückkomme, sagte Eva, wahrscheinlich im März.
    Sie nahm ein Hotelzimmer in der Nähe der Victoria Station, und am nächsten Morgen schlug sie so lange mit der Stirn gegen die raue Ziegeleinfassung des Fensters, bis die Haut aufplatzte und Blut zu fließen begann. Sie reinigte die Wunde,

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